Verico Target
Jenen Abend, als Ben von
Verico heimgekommen war. »Judy, die letzten beiden Tage haben
mir hart zugesetzt, ich kann das jetzt nicht diskutieren.« Und er war nicht wütend geworden. Er hatte nicht
zurückgebrüllt, selbst als sie ihn einen treulosen Mistkerl
nannte. »Judy, die letzten beiden Tage haben mir hart
zugesetzt, ich kann das jetzt nicht diskutieren.« Er war
durch die Küchentür zur Garage gegangen. Ohne die Tür
zuzuschmettern. Seine letzten Worte zu ihr, seiner Frau, die Worte,
mit denen sie ihn für alle Zeiten in Erinnerung haben
würde, hatten gelautet: »Ich halte das nicht mehr aus.
Ich fahre ins Labor.« Dann das Geräusch des
automatischen Garagentores, und dann jenes der roten Corvette, die
langsam – viel zu langsam für Ben – aus der Garage und
die Zufahrt hinab rollte. »Judy, die letzten beiden Tage
haben mir hart zugesetzt, ich kann das jetzt nicht
diskutieren.«
Der Brenner der Zentralheizung sprang an, rumpelnd und
hämmernd. Er war sehr alt. Als Kind, wenn sie nachts im warmen
Bett den Brenner anspringen hörte, hatte sie sich ihn als
freundlichen dicken Bären vorgestellt, der das Haus vor der
Kälte beschützte. Der dafür sorgte, daß sie in
Sicherheit war.
Doch jetzt gab es keine Sicherheit mehr für sie. Nie mehr
würde sie in Sicherheit sein. »Judy, die letzten beiden
Tage haben mir hart zugesetzt, ich kann das jetzt nicht
diskutieren.«
Die Nachttischlampe hatte nur 40 Watt. Sie warf sonderbare
Schatten in die Winkel des Zimmers. Judys altes, abgelegtes
Puppenhaus war ein buckliger, deformierter Eindringling, der
gebückt in einer Ecke lauerte. Die Bürste auf der
Frisierkommode war ein harter, dunkler Hammer, der nur darauf
wartete, Ben den Schädel einzuschlagen…
Erschrocken schnappte Judy nach Luft und vergrub das Gesicht in
den Händen. Wie eine peinliche Inkontinenz an einer völlig
falschen Stelle des Körpers begannen die Tränen wieder zu
fließen, Tränen, die sie seit beinahe drei Monaten unter
Kontrolle gehabt hatte.
»… die letzten beiden Tage haben mir hart
zugesetzt…«
Was hatte ihm daran so hart zugesetzt?
Langsam nahm Judy die Hände vom Gesicht.
Sie hatte stets angenommen, damit meinte er den Streit in Las
Vegas – in Verbindung mit einem Vorstellungsgespräch, das
anscheinend nicht erfolgreich verlaufen war. Ben haßte
Abfuhren. So etwas machte ihn rasend. Aber in jener Nacht hatte er
nicht gerast – doch eigentlich auch mit keinem Wort gesagt,
daß er sich bei Verico eine Abfuhr geholt hätte. Und ihr
privater Streit hatte nur dann innerhalb der letzten beiden Tage
stattgefunden, wenn man es mathematisch genau nahm: er hatte
siebenundvierzig Stunden zurückgelegen.
»Ich halte das nicht mehr aus.« – Halte was nicht mehr aus? Wiederum hatte Judy automatisch
angenommen, daß Ben damit meinte, er halte sie nicht
mehr aus – ihre Vorwürfe, ihr Gezeter und das, was er immer
ihr ›unentwegtes Bohren‹ nannte. Nun, sie hatte
tatsächlich gebohrt, aber er hatte nicht zugehört. Nicht
wirklich, nicht ihr. Er hatte etwas anderem zugehört, etwas, das
sie nicht hören konnte, etwas, von dem sie in jenem Moment nicht
einmal gewußt hatte, daß es da war.
Einer anderen Frau, deren Stimme er im Geist gelauscht hatte?
Caroline Lampert?
Nein. Diese Affäre war bereits seit zwei Jahren im Gange
gewesen (selbst jetzt noch spürte Judy, wie es ihr bei dem
Gedanken daran die Brust zusammenschnürte); eine zwei Jahre alte
Affäre war nicht mehr so taufrisch, um plötzlich, mitten in
der Nacht, eine solche Dringlichkeit zu bekommen. Jedenfalls nicht
für Ben, dachte Judy.
Nun, dann eine andere Frau. Dieselbe, mit der er die letzte Nacht
in Las Vegas verbracht hatte?
Nein. »Judy, die letzten beiden Tage haben mir hart
zugesetzt, ich kann das jetzt nicht diskutieren.« Wäre
es eine andere Frau gewesen, hätte Ben zwar ausweichend
reagiert, aber nicht so ruhig und zurückhaltend. Er hätte
das getan, was er immer tat, wenn er Judy verärgert hatte: er
hätte ein Übermaß von Charme an den Tag gelegt, in
der Hoffnung, sie abzulenken. Genau wie damals in Vegas bei dem
Streit wegen der Assistentin aus Berkeley. Aber das war in dieser
letzten Nacht daheim nicht der Fall gewesen. Er hatte nicht versucht,
charmant zu sein. Was für Stimmen auch immer Ben in seinem Kopf
vernommen hatte, sie gehörten keiner Frau.
Was war bei Verico tatsächlich vorgefallen?
Der Brenner der Heizung stellte sein Holpern ein. In der
plötzlichen Stille hörte Judy ihr eigenes
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