Verico Target
war
nicht einmal eine noble, altmodische, aus dem neunzehnten Jahrhundert
übernommene Beschäftigung – nein, das war eine aus dem
neunten Jahrhundert, als Mönche in zugigen Steinzellen hockten
und im Licht ihres hell lodernden Glaubens mit Gänsekielen
Buchstaben malten! Dan O’Brien hatte nicht nur sein Jahrhundert,
sondern sein ganzes Jahrtausend verfehlt! Was hatten die Gedanken
eines solchen Mannes – auch wenn er selbst beinahe ein Heiliger
war – mit einer Welt zu tun, in der die Menschen das Erbgut
manipulierten, mit tausend Stundenkilometern durch die Luft fernen
Kontinenten entgegenrasten und einander wegen einer
maschingenähten Lederbrieftasche voller Plastikkärtchen
umbrachten? Nichts. Überhaupt nichts. Drei Monate zusammen mit
ihrem Vater hatten ihr Befinden nicht verbessert, sondern
verschlechtert. Sie war nicht mehr die, die sie wirklich war.
Sie kämpfte sich durch die Menschenmenge und löste eine
Fahrkarte für den nächsten Zug nach Elizabeth, New Jersey,
die sie mit ihrer MasterCard bezahlte. Der Zug würde in
fünfundzwanzig Minuten fahren. Bei einem Bankomat ließ sie
sich zweihundert Dollar auszahlen und suchte dann eine Telefonzelle.
Die Gespräche buchte sie wie die Fahrkarte auf MasterCard.
»Auskunft. Welche Stadt, bitte?«
»Washington, D.C.«
»Welcher Teilnehmer?«
»Ich hätte gern die Rufnummer des
Justizministeriums.«
»Moment.« Ein helles Ticken im Hintergrund, und dann
sagte eine mechanische Frauenstimme mit übertriebener
Deutlichkeit die Nummer durch.
Judy tippte sie ein. »Justizministerium.«
»Ich hätte gern Robert Cavanaugh gesprochen.«
»Einen Augenblick Geduld, bitte«, sagte die Stimme,
womit das Justizministerium die Telefongesellschaft in Sachen
Höflichkeit bei weitem schlug. Draußen sah Judy
nervöse Pendler vorbeirennen, während sie wartete.
»Es tut mir leid, daß es ein wenig dauert, Madam.
Könnten Sie den Namen buchstabieren?«
»C-A-V-A-N-A-U-G-H«, buchstabierte Judy; sie hoffte, es
war richtig.
»Tut mir leid, aber wir haben niemanden mit diesem Namen im
Haus.«
»Vielleicht schreibt er sich mit K. Versuchen Sie
K-A-V-A-N-A-U-G-H.«
»Nein, tut mir leid…« Die Stimme verstummte, und es
klang nach ehrlichem Bedauern.
»Hören Sie, ich bin sicher, daß es bei Ihnen
jemanden mit diesem Namen gibt. Ich bin Zeugin in einem Verfahren,
das vom Justizministerium angestrengt wurde…« – wie
hieß dieser große Fall doch schnell, der durch alle
Zeitungen ging? –,»… im Fall Carl Lupica. Mister
Cavanaugh trug mir auf, ihn anzurufen, falls ich weitere
Informationen für ihn hätte, und die habe ich
jetzt.«
»Einen Augenblick, bitte.«
Plötzlich kam Judy der Gedanke, daß ihr Vater sich
geirrt haben mochte. Er hatte nur gesagt, er glaube, daß
Cavanaugh vom Justizministerium kam. Vielleicht gehörte er aber
doch nur der lokalen Polizeibehörde an und war ein Kollege von
Leutnant Piperston, von dem er den Fall übernahm, weil Piperston
einen Urlaub nach Disney-World oder sonstwohin gebucht hatte. Was
wußte ihr Vater schon über die staatlichen
Gesetzeshüter? Er schrieb an einem Buch über Heilige, und
seine Vorstellung von nützlichen Ratschlägen angesichts von
Verbrechen beschränkte sich auf das Zitieren des Predigers
Salomo.
Eine Männerstimme, rauh und amtlich, meldete sich. »Paul
Sanderson. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Judy legte auf.
Nun ja, was hätte Cavanaugh ihr schon gesagt? Das
Justizministerium beschäftigte sich mit dem Sammeln von
Informationen über Kriminelle und nicht mit ihrer Weitergabe an
jeden x-beliebigen, der anrief. Und Cavanaugh war nicht einmal am
Justizministerium. Das war also erledigt.
Sie schleppte ihren Koffer zur Damentoilette, um sich in den
verbleibenden knapp fünfzehn Minuten soweit wie möglich zu
restaurieren. In einer Kabine legte sie den Koffer auf die Toilette
und öffnete ihn. Ihre Mutter hatte Judys Wäsche gewaschen
– worüber sie sich jetzt zwar schämte, aber immerhin
hatte sie so die Gewißheit, daß fast alles sauber war.
Andererseits hatte sie damals, an dem gräßlichen Morgen,
nachdem sie bei Caroline Lampert gewesen war, ein paar Sachen in den
Koffer geworfen, wie sie ihr unter die Hände kamen, und so
befand sich auch jetzt nichts anderes darin als ein paar Pullover,
T-Shirts, Jeans und ein Trainingsanzug. Und das schwarze Kleid, das
sie zu Bens Beerdigung getragen hatte.
Langsam zog sie es aus dem Koffer. Es war ein Strickkleid von Liz
Claiborne und knitterte nicht
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