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Verico Target

Verico Target

Titel: Verico Target Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Atmen, hart und
schnell. Sie spürte das Blut durch ihre Adern fließen,
spürte unter der Daunendecke ihr eigenes warmes Fleisch –
so warm, wie Bens Fleisch nie mehr sein würde. Ihre Finger, die
vor ihr auf der Decke lagen, krümmten sich und streckten sich:
rosig und blau geädert.
    Ihr Atem, ihr Blut. Ihre Finger.
    Mit einemmal wußte sie, wovor sie sich so sehr
fürchtete.
    Leise stieg sie aus dem Bett. Das Schwindelgefühl kehrte
zurück, aber sie hielt sich am Kopfende des Bettes fest, bis es
verging. Sie zog sich das Nachthemd über den Kopf und
schlüpfte in Unterwäsche, Socken, Jeans und einen warmen
dunkelblauen Pullover. Jeans und Pullover waren viel zu weit; in drei
Monaten des Nichtessens hatte sie stark abgenommen.
    Dann zog sie ihren Koffer unter dem Bett hervor. So lautlos wie
möglich packte sie ein paar Kleidungsstücke und
Toilettesachen ein. Der Kofferdeckel schnappte hart ins Schloß,
und sie zuckte zusammen.
    Als ihre Eltern sie an dem Tag, nachdem sie Caroline Lampert zur
Rede gestellt hatte, nach Troy mitnahmen, war Judy nicht in der
Verfassung gewesen, selbst zu fahren, und daher standen sowohl ihr
Toyota als auch Bens Corvette daheim in Natick. So griff Judy also
nach dem Telefon auf dem Nachttisch und rief in der stillen Hoffnung,
daß die Nummer sich in der Zwischenzeit nicht geändert
hatte, den Taxifunk an. Während sie die Nummer wählte,
kamen Erinnerungen an langvergangene Freitagabende zurück, als
sie und ihre Freundinnen von der Mittelschule das Taschengeld
zusammengelegt hatten, um mit dem Taxi die Lokale abzuklappern, in
denen die faszinierenden ›älteren Jungs‹ vom
Renssalaer Polytechnikum für gewöhnlich herumsaßen.
Die Nummer jetzt einzutippen, das war ein merkwürdiges
Gefühl. Aber sie stimmte immer noch.
    Ich bin ein Mensch mit gutem Zahlengedächtnis.
    In der Diele holte sie vorsichtig ihren Mantel aus dem Schrank.
Die Fäustlinge steckten in den Taschen. Sie zog die Stiefel an
und trug den Koffer zur Küche, von der jene Tür nach
draußen führte, die am weitesten vom Schlafzimmer ihrer
Eltern entfernt war. Von dort aus konnte sie dann um die linke
Hausseite zur Straße schleichen und das Taxi aufhalten, ehe es
in die Einfahrt hereinfuhr.
    Ich bin ein Mensch, der die Fakten ans Tageslicht bringt.
Für die Wissenschaftsseiten von Zeitungen. Für Artikel.
Für mich selbst.
    Als sie das Wohnzimmer durchquerte, fiel ihr Blick auf die
Einkaufsliste, die ihre Mutter auf den kleinen Tisch unter dem
Fenster gelegt hatte. Eine Straßenlampe warf ihren schwachen
Schein auf ›Äpfel, Käse, Lammkoteletts à
3.49‹. Judy stellte den Koffer ab und kritzelte ans untere Ende
der Liste: ›Macht Euch keine Sorgen. Bin nach Hause gefahren.
Rufe Euch an.‹ Sie hatte vorgehabt, vom Bahnhof aus anzurufen,
aber so war es noch besser. Keine Konfrontation.
    Ich bin ein Mensch, der plant und handelt. Und sich nicht
willenlos treiben läßt.
    Sie schlich in die Küche; hier war es dunkler, denn das
Fenster ging nach hinten hinaus, und dort gab es keine
Straßenlampen.
    »Hallo, Judy.«
    Erschrocken schnappte sie nach Luft und schaltete das Licht ein.
Vater saß in seinem Hausmantel aus buntkariertem Wollstoff am
Küchentisch, den Rosenkranz aus Onyx in einer Hand.
    »Oh, tut mir leid, Kleines, ich wollte dich nicht
erschrecken! Ich hörte dich in deinem Zimmer rumoren und dachte,
du würdest vielleicht ein wenig Gesellschaft brauchen.«
    Judy sah ihren Vater an. Sein graues Haar war zerrauft, und der
Hausmantel war schief zugeknöpft. Aber sein Gesicht, obwohl
faltig und ein wenig verschwollen vom Schlaf – und so
wohlbekannt wie ihr eigenes im Spiegel – zeigte dieselben
heiter-ausgeglichenen Züge wie immer. Nur ein Pochen am Hals
direkt über dem Pyjamakragen verriet seine Erregung.
    Behutsam sagte Judy: »Ich gehe jetzt, Daddy. Das Taxi wird
gleich da sein.«
    »So etwas habe ich mir schon gedacht, als ich deinen Koffer
sah.«
    »Du kannst mich nicht davon abhalten.«
    »Wann wollte ich dich je von etwas abhalten, Judy?«
fragte er mit ruhiger Stimme.
    Er hatte recht, und Judy wußte plötzlich nicht mehr,
warum sie das überhaupt gesagt hatte. Einen Augenblick lang
sahen sie einander schweigend an, während Dan O’Briens
Finger über den Rosenkranz glitten; da wußte Judy, er
betete um Stärke und Sicherheit für sie.
    »Daddy… Ich weiß jetzt, wovor ich mich so sehr
gefürchtet habe. Jetzt weiß ich es.«
    »Und wovor, Kleines?« fragte er mit leiser,

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