Verico Target
es die Höflichkeit
gerade noch erlaubte, zog sie ihre Hände aus denen von Doktor
Stevens. Der Mann wirkte genau so wie sein Arbeitszimmer:
herausgeputzt und drittklassig; dazu dünnes braunes Haar, das er
quer über den Schädel gebürstet hatte, um die Glatze
zu verdecken; von mittlerer Statur, dafür ein teurer Anzug
über einem Spitzbauch. Man konnte ihm fünfmal über den
Weg laufen und ihn beim sechstenmal nicht wiedererkennen. Er
verfügte entweder über die gute Kinderstube oder über
die nötige Gleichgültigkeit, um keine Reaktion auf ihre
Totalschaden-Erscheinung zu zeigen.
»Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Eigentlich«, sagte Judy und ließ sich in einem
Clubsessel nieder, »bin ich eben deswegen hergekommen,
nämlich, um mit Ihnen über den Tod meines Mannes zu
sprechen.« Sie beobachtete Stevens genau: keine Reaktion. Aber
was hatte sie erwartet? Daß er einen unsteten Blick bekommen
und zu schwitzen anfangen würde?
»Können wir Ihnen da in irgendeiner Weise behilflich
sein? Leider hatte ich nie die Ehre, mit Herrn Doktor Kozinski zu
arbeiten…«
»Aber er war zu einem ersten Vorgespräch hier, am lag
vor seinem Tod.«
»Und jeder einzelne meiner Mitarbeiter hat es zutiefst
bedauert, daß er kein Interesse an dieser Stellung
zeigte«, fügte Stevens geschmeidig hinzu. »Wir haben
wirklich getan, was wir konnten, um ihn hierherzulocken – das
Gehaltsangebot und die sonstigen Vergünstigungen waren
gewiß großzügig bemessen, denke ich. Er wird das ja
wohl mit Ihnen besprochen haben.«
»Ja, das hat er.« Sie bemühte sich, die Worte
bedeutsam klingen zu lassen.
»Dann wissen Sie sicher, wie hervorragend unser Angebot war.
Und selbstverständlich nicht nur in finanzieller Hinsicht –
wir boten Ben völlige Unabhängigkeit bei seiner Arbeit, ein
unbegrenztes Forschungsbudget, was auch immer er benötigen
sollte, um Verico zu einem profitablen Unternehmen zu machen. Denn
zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es das leider nicht, wie er
Ihnen gewiß gesagt haben wird.«
Stevens machte nicht den Eindruck, als würde er Judy
besonders aufmerksam beobachten. Er saß locker seitlich auf der
Schreibtischkante und schien völlig ruhig zu sein. Und er machte
auch keine Anstalten, sie auszuhorchen, um herauszufinden, wieviel
sie wußte. War er denn so sicher, daß Ben ihr nichts von
dem erzählt hatte, was bei Verico vorging?
Aber war sie so sicher, daß überhaupt etwas
vorging?
Sie saß schweigend da und wartete – kein Lächeln
auf den Lippen, aber höchst aufmerksam: ein alter Reportertrick.
Die meisten Menschen empfanden ein plötzliches längeres
Schweigen als unbehaglich und versuchten, es mit Worten zu
überbrücken – die oft mehr Informationen enthielten,
als den Leuten lieb war. Diesmal jedoch funktionierte es nicht.
Stevens fragte freundlich: »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee
anbieten? Sie sehen aus, als würden Sie frieren.«
»Nein, vielen Dank. Was ich sagen wollte, war… ich
meine, weil Ben doch am Tag, bevor er ermordet wurde, hier war und
ein wenig aufgeregt nach Hause kam… da fragte ich mich, ob…
das heißt, was…« Auch ein Journalistentrick. Beginne
mit einem Teil des Wesentlichen, brech ab und warte, wie die
Zielperson es zu Ende bringt.
Stevens sagte: »Wir hatten auch den Eindruck, daß er
etwas aufgeregt wirkte, als er hier war. Und, um ehrlich zu sein, ich
suche schon die ganze Zeit nach einem taktvollen Weg, Sie nach seiner
Gesundheit zu fragen. Hatte er sich wohlgefühlt in letzter
Zeit?«
»Durchaus.«
»Oh, nun, dann…«, sagte Stevens mit einem leichten
entschuldigenden Lächeln, das sichtlich ausdrücken sollte,
daß Bens Aufregung dann wohl häuslichen Ursprungs gewesen
war und daß Stevens für seine Neugierde um Verzeihung
bat.
Judy verspürte eine Woge des Hasses gegen diesen Mann, die
sie überraschte. »Doktor Stevens, ist hier irgend etwas
vorgefallen, was Ben beunruhigt oder aufgeregt haben könnte?
Denn als er Las Vegas verließ, um bei Ihnen vorzusprechen, war
er weder das eine noch das andere. Und er war beides, als er Mittwoch
spät abends heimkam.«
So. Jetzt hatte sie ihre Munition abgeschossen. Sie musterte
Stevens eingehend.
Er schüttelte den Kopf, die Stirn gerunzelt in bemühter
Anteilnahme. »Nein, hier ist nichts dergleichen
vorgefallen. Wir führten Ben durchs Haus, informierten ihn
über die wesentlichen Zielsetzungen unserer Forschungsarbeiten
– die, offen gesagt, bislang kaum zu Optimismus Anlaß
gaben – und ließen ihn
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