Verico Target
lieb von dir, daß du dich so um mich sorgst,
aber ich glaube nicht, daß es schon Magersucht ist.«
»Wieviel hast du abgenommen?«
»Keine Ahnung«, antwortete Judy desinteressiert. Seit
Juli hatte sie auf keiner Waage gestanden.
»Tjaaa… Es tut mir leid, wenn ich dir das sagen
muß, Judy, aber ein allzu rascher Gewichtsverlust ist Gift
für die Haut. Nimm dich, zum Beispiel. Wie käsig du jetzt
aussiehst, besonders mit diesen roten Haaren. Ich bin nicht gern die
erste, die dir das sagt, aber deine natürliche Haarfarbe hat dir
mehr geschmeichelt. Dieses Rot ist einfach ein bißchen zu
knallig.«
»Ich glaube, ich komme doch lieber mit in die
Küche«, sagte Judy. Sie schob die Druckfahnen zu
ordentlichen Stapeln zusammen, ehe sie aufstand. St. Pelagius, der
irrtümlich der Meinung war, man könnte sein Seelenheil
durch gute Werke allein erreichen, und der das Konzept der Gnade
übersah…
»Gut«, sagte Maureen. »Du versuchst, tapfer zu
sein. Aber ich hoffe, du bist dir im klaren, daß du dich in
gewisser Hinsicht sehr glücklich schätzen kannst, Judy. Du
hattest Ben zehn Jahre lang. Im Unterschied zu dem, was mir
widerfahren ist.«
Maureens Verlobter hatte sie zwei Tage vor der Hochzeit
sitzenlassen und war bis nach Barbados geflohen – gerade eben
weit genug, fand Judy.
»Vergiß deinen Wein nicht, Judy, ich habe ihn ja extra
für dich gebracht. Meine Güte, schau dich doch an, wie du
aussiehst! Dieses Kleid hängt ja nur so an dir! Aber vielleicht
erlaubt dir deine finanzielle Situation jetzt nicht allzu viele neue
Kleider?«
In der Küche hob Dan O’Brien gerade den Truthahn aus der
Backröhre. Vierundzwanzig Personen machten »Oooh« und
»Aaah«. Judy sah schweigend zu. Was wollte sie eigentlich
hier in diesem Nest glücklicher Menschen in Feiertagsstimmung?
Sie gehörte nicht hierher, sie gehörte an einen Ort, wo die
Leute einander mitten in der Nacht anbrüllten und dann Leichen
betrachten mußten, ehe sie ihr ganzes Sinnen und Trachten auf
Rache ausrichteten. Sie gehörte nicht hierher auf diese
heimelige Familienfeier. Sie war viel zu zornerfüllt, um hierher
zu gehören.
Zum Truthahn gab es außer seiner eigenen Fülle und dem
Saft noch Kartoffelbrei und Kürbisgemüse, Zwiebelsoße
und weiße Rüben, Gratin aus Fenchel und roten
Pfefferschoten, grüne Bohnen mit gerösteten
Haselnüssen, Preiselbeeren als Gelee und als Kompott,
Sauerteiggebäck und heiße Hefebrötchen,
Käsetörtchen und Melone und Apfelkuchen. Judy spürte,
wie es ihr den Magen umdrehte. Im Licht der Kerzen floß der
Wein dunkelrot, goldgelb und funkelnd klar in die Gläser.
»Wir wollen uns an den Händen halten«, sagte Dan
O’Brien, »und dem Herrn danken.«
Um alle unterzubringen, war eine riesige Sperrholzplatte auf den
Eßzimmertisch gelegt worden, und die Nachbarn hatten mit
Stühlen ausgeholfen. Judy saß zwischen Maureen und dem
kleinen Jungen ihres Vetters Joe, einer vierjährigen Rotznase
namens Matthew. Seine kleine Hand umklammerte vertrauensvoll die
ihre. Von der anderen Seite des Tisches aus sah Mutter sie an; ihr
Gesicht war gerötet von der Arbeit am Herd und voller
Sorgenfalten.
Vater sagte: »An diesem Tag, o Herr, danken wir Dir für
alle materiellen Gaben, die Du uns in so reichlicher Fülle
beschert hast. Doch mehr noch, o Herr, danken wir Dir für Deine
spirituellen Gaben. Für die Liebe, die uns einhüllt.
Für die Gnade, Dich in Deiner Barmherzigkeit zu kennen. Und wir
danken Dir auch, o Herr, für die wertvollste deiner Gaben:
für die Chance, unser Leben zu einer spirituellen Suche zu
machen und ihm dadurch eine Bedeutung zu verleihen, die über das
Essen, das Trinken und selbst die Liebe hinausgeht.
Denn wir alle suchen nach der spirituellen Wahrheit, mögen
wir sie nun erkennen oder nicht, und es ist der Widerschein dieser
Wahrheit in dieser Deiner Welt, der uns an einem Tag wie dem
heutigen, umgeben von der Fülle Deiner Gaben und von Liebe, so
dankbar macht. Der spirituelle Weg ist eine Suche nach der Wahrheit,
so wie die Wissenschaft eine Suche nach der Wahrheit ist; beide
wollen die unsichtbare Ordnung der Dinge rund um uns verstehen.
Niemals ist die Suche einfach, und der Hindernisse auf dem Weg sind
viele. Aber wir danken Dir auch für diese Hindernisse, o Herr,
denn ohne sie würden wir nicht wachsen. Wir danken Dir für
all die unbeantworteten Fragen, die uns dazu zwingen, nach einer
Antwort zu suchen. Wir danken Dir für alles Geheimnisvolle, das
uns zwingt, unter die
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