Verico Target
von
allen Mitarbeitern Bens hatte sich nur Caroline Lampert in ihr
Gedächtnis gebrannt.
»Also, Mrs. Kozinski, offiziell hatten die Ratten ja nur
Nummern. Sie wissen, die Versuchsnummer und die individuelle
Tiernummer. Aber untereinander gaben wir ihnen schon Namen, dummes
Zeug, Sie verstehen, wenn man eben mal herumalbert…«
Diese furchtbare Ernsthaftigkeit der jungen Gelehrten. Sie
dachten, für jede Verspieltheit müsse man sich
entschuldigen. »Was für Namen, Greg?«
»Lassen Sie mich überlegen… Seit damals hat es
schon viele Ratten gegeben. Letzten Sommer… Da war eine, die
hieß Madonna, daran erinnere ich mich, und ein Pater Jones und
ein Petey. Und Kassandra, weil die immer so sorgenvoll dreinsah. O
ja, und der Bronze-Löwenzahn – aber das war so ein privater
Scherz zwischen Doktor Kozinski und Frau Doktor Lampert, da war ich
nicht eingeweiht.«
In seiner Stimme lag nur das Bedauern, ausgeschlossen worden zu
sein.
»Ich danke Ihnen«, sagte Judy. »Sie waren mir eine
große Hilfe. Entschuldigen Sie noch mal die sonntägliche
Störung.«
»Keine Ursache. Es freut mich, wenn ich Ihnen helfen
konnte.«
Judy ging zurück ins Eßzimmer. Sie griff nach dem
Notizbuch und starrte die Kugeln an, diese übermütigen
Waffen gegen die Krankheiten unsichtbarer Laborratten, die ebenso wie
ihr Mann schon seit Monaten tot waren.
Am
Tag des Thanksgiving-Festes saß Judy über den Schreibtisch
ihres Vaters gebeugt und studierte Druckfahnen. Aus der Küche
wehte der Duft nach gebratenem Truthahn und gewürztem Apfelwein
herüber. Irgendwo lachte jemand, dem metallisch kreischenden
Klang nach vermutlich ihre widerliche Cousine Maureen. Warum hatten
ihre Eltern bloß Maureen zum Thanksgiving-Essen eingeladen?
Weil Maureen zur Familie gehörte. Weil sie Maureen zu
Thanksgiving immer einluden. Das war das zwölfte Gebot, es kam
gleich nach: »Du sollst an Feiertagen nicht verdrießlich
sein.«
Und wenn man die Druckfahnen von Vaters Buch korrigierte, konnte
einem keiner Verdrießlichkeit vorwerfen.
Nicht, daß irgend jemand ihr je direkt Vorwürfe gemacht
hätte. Laßt Judy in Ruhe, es ist erst so kurz her, sie
grämt sich immer noch, armes Kind… Trauernde
Hinterbliebene waren nicht verdrießlich, sie grämten sich.
Selbst wenn sie jeden grob anschnauzten, der ihnen über den Weg
lief – was Judy seit ihrer Ankunft im Haus ihrer Eltern getan
hatte –, wurde das Grämen genannt. Doch niemand war mehr
überrascht über ihr Benehmen als Judy selbst, die Frau, die
Familienfeste immer geliebt und Ben stolz zu ihnen mitgenommen hatte. Ich liebe deine Leute, Judy, hatte Ben stets gesagt, sogar
das religiöse Rückgrat ihrer Lebensart finde ich
wohltuend.
Wiederum kreischte Maureen in der Küche.
Judy wandte sich wieder den Druckfahnen zu. Acht Jahre lang hatte
ihr Vater an den Lebensgeschichten dieser Heiligen gearbeitet, und
nun würde ein katholischer Universitätsverlag sie
publizieren; es sollte eine hübsche Ausgabe werden, mit
Vierfarbenillustrationen von Renaissancekunst und großen,
mittelalterlich anmutenden Buchstaben am Anfang jeder
Heiligenbiographie. St. Johannes der Almosengeber, der Patriarch von
Alexandria, der jeden Mittwoch und Freitag auf einer Bank vor der
Kirche saß und sich die Sorgen der Armen anhörte. St.
Bernhard von Menthon, der Beistand der Reisenden und Namensgeber
für Hunde. St. Bonifaz. St. Christophorus. Lieber Himmel, sie
war erst bei den C’s angelangt! Noch dreiundzwanzig Buchstaben
zu korrigieren! Soviel gesammelte Güte, die direkt in eine Welt
führte, in der ihr Mann auf dem Weg zu seiner Geliebten vor
einem Stop & Shop-Laden mit einem Hammer erschlagen wurde!
Die Tür ging auf. »Judy? Ich bringe dir ein Glas
Wein.«
»Danke, Maureen.«
Ihre Cousine trat ins Zimmer. »Du solltest rauskommen und dir
eine kleine Vorspeise holen. Die Soße zu den Krabben ist
phantastisch.«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Tjaaa… Ich möchte eigentlich nicht diejenige sein,
die dir das sagt, aber du wirst zu dünn.«
Judy sah Maureen an, eine erfolgreiche Börsenmaklerin, die
eine teure karierte Wolljacke trug, goldene Schuhe, weiße
Strumpfhosen und einen Rock Größe 48. »Ach
ja?«
»Du bist nur noch Haut und Knochen. Hat der Arzt schon
über Magersucht mit dir gesprochen?«
Als Maureen zehn und Judy vier gewesen war, da hatte Maureen Judy
einmal auf einen Baum gehoben und sie dort eine halbe Stunde lang
heulend und verängstigt sitzen gelassen. Judy sagte: »Also,
es ist wirklich
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