Verirrte Herzen
sie erwartet hatte. Aber dann war ihr klar, dass sie sich diese Möglichkeit nicht entgehen lassen konnte. »Sehr gern«, sagte sie.
»Das ist ja wunderbar. Dann sehen wir uns um drei in meiner Praxis.«
Plötzlich fiel Anne auf, dass sie ein wichtiges Detail vergessen hatte. Sie räusperte sich. »Ein Problem gibt es da noch. Ich habe eine kleine Tochter und leider niemanden, der so kurzfristig auf sie aufpassen könnte. Vielleicht wäre ein Vormittag besser.«
Sofort tat es ihr leid, dass sie das gesagt hatte. Jetzt hielt er sie mit Sicherheit für völlig ungeeignet. So könnte sie ja nie spontan einspringen, wenn ein Kollege krank werden würde oder Urlaub benötigte. Das war bestimmt ganz und gar nicht das, was er hören wollte.
»Ach, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Ihre Tochter haben Sie ja in der Bewerbung erwähnt. Bringen Sie die Kleine doch einfach mit«, schlug Herr Kleinemann überraschend vor.
Anne glaubte nicht richtig zu hören. Mit einer solchen Antwort hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet. Überglücklich sagte sie zu.
Nachdem sie aufgelegt hatte, rief sie sofort bei Caro an, die sich mit ihr freute.
»Das hört sich doch sehr vielversprechend an, besonders, wenn er dich gleich sehen will. Wo hat er denn seine Praxis?« wollte Caro wissen.
Anne erklärte Caro noch immer etwas atemlos vor Begeisterung, dass Herr Kleinemann der Physiotherapeut direkt um die Ecke war, keine fünf Minuten zu Fuß.
»Das ist doch noch besser«, kommentierte Caro enthusiastisch die Ausführungen ihrer Freundin. »Ich drücke dir ganz fest die Daumen. Du bist die Beste, das weiß ich. Und wer dich nicht will, dem ist wohl nicht mehr zu helfen«, wünschte sie Anne viel Erfolg für das Gespräch.
Anne musste grinsen. Manchmal war Caro wirklich unmöglich.
Anne hatte ihren Kleiderschrank etliche Male begutachtet, etwas anprobiert und dann doch lieber wieder weggehängt. Irgendwie war alles nicht das richtige.
Am Ende entschied sie sich für eine dunkle Hose, eher bequem als elegant, und dazu einen schlichten, roten Rollkragenpulli, der perfekt zu ihren dunklen Augen und Haaren passte. Eigentlich sah sie wirklich nicht schlecht aus. Klassisch und natürlich, aber dem Anlass durchaus angemessen.
»Lilly, wir müssen los«, rief Anne ihre Tochter. Sie hatte Lilly, an der die Spuren eines verspielten Vormittags im Kindergarten deutlich zu sehen gewesen waren, umgezogen und in eine saubere Hose gesteckt.
Wenig später standen sie bereits vor der kleinen Praxis. Anne beugte sich noch einmal zu Lilly und sah sie ernst an. »Denk daran, was ich dir gesagt habe. Du musst gleich ganz lieb und brav sein. Das ist sehr wichtig für mich«, versuchte sie ihrer Tochter gutes Benehmen einzutrichtern.
Lilly nickte. Sie hatte verstanden. Auch als Vierjährige merkte sie, wie angespannt Anne war, und dass sie besser das machte, was ihre Mutter von ihr verlangte.
Mit klopfendem Herzen betrat Anne die Praxis.
»Sie müssen Frau Mengen sein«, begrüßte sie eine freundlich lächelnde Sprechstundenhilfe, nachdem sie kaum eingetreten waren.
»Ganz genau. Die bin ich.« Anne erwiderte das Lächeln. Sie fühlte sich ein wenig schwindelig und schwach auf den Beinen. Dass die Nervosität sie auch immer so im Griff haben musste.
»Herr Kleinemann wartet in seinem Büro auf Sie. Gehen Sie einfach durch.« Die Frau deutete auf eine Tür am Ende eines langen Flurs. »Ihre Tochter können Sie gern bei mir lassen. Ich passe auf die Kleine auf«, bot sie an.
Anne gab Lilly noch einen flüchtigen Kuss und ging dann etwas unsicher auf das Büro zu. Zaghaft klopfte sie an die Tür. Sie würde sicher gleich in Ohnmacht fallen.
»Kommen Sie herein«, forderte eine laute Stimme sie auf.
Ihre feuchten Hände drückten die Klinke herunter, und Anne stand einem großen, kräftigen Mann, den sie auf Mitte fünfzig schätzte, gegenüber.
All die Aufregung und Sorge waren völlig unnötig gewesen. Herr Kleinemann empfing sie ausgesprochen liebenswürdig und bot ihr einen Stuhl und eine Tasse Kaffee an.
Statt Anne groß auszufragen, erzählte Herr Kleinemann ihr mehr über die Praxis und die dort gängigen Behandlungsmethoden.
»Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« wollte er schließlich wissen.
»Nein, eigentlich nicht. Das hört sich alles wirklich gut an«, entgegnete Anne, begeistert von dem, was sie gehört hatte.
»Na gut, dann habe ich nur noch eine Frage. Wann könnten Sie denn anfangen?« Herr Kleinemann sah sie
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