Verirrte Herzen
und drückte sie etwas zu kräftig, um ihr die nötige Bestätigung zukommen zu lassen.
Bei dem Wort »heimlich« erschrak Anne. Es klang in ihren Ohren wie ein Verbrechen, wie eine große Sünde. Aber war es das nicht auch? Ständig ließ sich Anne neue Ausreden und Lügen einfallen, um mit Nora zusammensein zu können. Caro war noch immer völlig ahnungslos, sie vertraute Anne blind. Anne quälten heftige Schuldgefühle, weil sie ihr Vertrauen so schamlos ausnutzte und missbrauchte. Aber sobald sie mit Nora zusammen war, waren all ihre Gewissensbisse und all ihre Zweifel wie weggewischt.
Nadine zwinkerte Anne zu. »Wie ist es denn so mit ihr?« konnte sie ihre Neugierde nicht länger unterdrücken.
Anne seufzte tief, ehe sie im Flüsterton zu erzählen begann: »Mit ihr ist alles so einfach, so leicht. Mein Alltag scheint sich völlig in Luft aufzulösen. Ich genieße unsere gemeinsamen Nachmittage und Abende sehr. Ich habe mich lange nicht mehr so unbeschwert gefühlt.«
»Und weiter?« bohrte Nadine nach.
»Wenn du meinst, ob irgend etwas zwischen uns passiert ist, kann ich dir leider nur mitteilen, dass es nichts zu berichten gibt.«
Leider. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Irgendwie war es ihr so herausgerutscht. Sie wusste nicht, ob sie wirklich wollte, dass mehr passierte außer dem Händchenhalten in unbeobachteten Momenten.
Leider. Das Wort setzte sich in ihrem Kopf fest. Einmal hätte sie Nora beinahe geküsst. Nach einem Galeriebesuch standen sie vor Noras Haustür. Sie sahen sich tief in die Augen. Der Mondschein hüllte sie in ein milchiges Licht. Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Als sie sich zur Verabschiedung umarmten, näherten sich ihre Lippen unaufhaltsam. Anne fühlte Noras warmen Atem in ihrem Gesicht. Aber in letzter Sekunde hatte Anne sich ihr entzogen und war Hals über Kopf geflüchtet.
Leider. Sie hatte schon sehr oft daran gedacht, wie es wäre, Nora zu berühren, sie zu küssen, ihre Haut zu streicheln. Doch wollte sie diese Gedanken wirklich in die Realität umsetzen? Sie wusste es nicht.
»Ich traue mich ja fast gar nicht zu fragen, aber was ist mit Caro?« wollte Nadine schließlich wissen.
Anne verschränkte ihre Finger ineinander und spielte mit ihrem Ring. »Mit Caro läuft einfach alles schief im Moment. Manchmal habe ich das Gefühl, wir haben uns kaum mehr etwas zu sagen. Außer einigen flüchtigen Küssen läuft in den letzten Wochen nichts zwischen uns. Aber wenn ich dann Nora sehe, schäumt die Sehnsucht nach zärtlichen Berührungen fast über in mir. Da ist dieses gewisse Etwas. Knisternde Erotik.« Anne presste alle Luft aus ihren Lungen, so als wollte sie die Gedanken an Nora gleich mit wegpusten. Die Verzweiflung in Annes Blick war kaum zu übersehen.
Nadine legte den Arm um sie.
»Ich weiß doch auch nicht, was das alles zu bedeuten hat. Ich kann meine Gefühle einfach nicht ordnen. Verstehst du? Ich will doch meine gemeinsame Zeit mit Caro nicht einfach wegwerfen. Aber Nora übt einen starken Reiz auf mich aus. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, spielt mein Körper verrückt, und die Welt um uns herum steht still«, erklärte Anne eher sich selbst als Nadine.
Lilly hüpfte auf sie zu und zerrte an Annes Hand. »Ich will schaukeln. Du musst mich anschubsen«, forderte sie.
»Lass nur. Bleib noch einen Augenblick hier sitzen. Ich schick deine Tochter schon gen Himmel«, bot Nadine an.
Anne nahm dieses Angebot dankbar an und hing noch eine Weile ihren Gedanken nach.
Lilly und Nadine tobten ausgelassen auf der Schaukel.
Irgendwann konnte Anne wieder lächeln.
Anne war gerade dabei, für Lilly und sich selbst ein paar belegte Brote als Abendessen zu richten, als das Telefon klingelte.
»Hallo?« Anne klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, um sich weiter um das Essen kümmern zu können.
»Guten Tag. Hier ist Gläser von der Firma Elektro-Fischer. Ich hätte gern mit Frau Wagner gesprochen«, meldete sich eine freundliche Männerstimme.
Ein Elektriker? Was wollte der wohl von Caro? Verwundert hielt Anne in ihrer Arbeit inne. »Sie ist leider noch nicht zu Hause. Soll ich ihr etwas ausrichten?« fragte sie.
»Ja, das wäre nett. Sagen Sie ihr, dass ihr Flachbildfernseher angekommen ist und sie sich bitte bei mir melden soll, wenn sie ihn abholen will.«
Ihr Flachbildfernseher war angekommen? Wovon sprach der Mann?
Anne legte den Hörer beiseite. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Es kam ihr alles etwas merkwürdig vor. Aber sicher
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