Verirrte Herzen
So brauchte sie keinen Urlaub zu nehmen, und Peter freute sich, endlich einmal mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen zu können.
Zwischen den Wolken konnte sie die Sonne sehen, die für die Jahreszeit bereits eine große Kraft entwickelte. »Wir können ja eine kleine Runde spazierengehen, statt uns ins Café zu setzen. Das Wetter ist so schön heute«, schlug Anne vor. Sie liebte den Sonnenschein und wollte so viel wie möglich von den ersten Strahlen genießen.
»Gern. Das ist eine gute Idee.«
Sie schlenderten gemütlich durch den Stadtpark, immer ein wenig auf Abstand wie zwei gute Freundinnen. Sie wollten sich in der Öffentlichkeit auf keinen Fall zu nahe kommen. Anne hatte Angst, dass sie einer Bekannten über den Weg laufen könnten.
»Du siehst verdammt gut aus heute. So strahlend schön«, machte Nora Anne unvermittelt ein Kompliment.
»Danke«, entgegnete Anne ohne eine Spur von Verlegenheit. Sie freute sich über die netten Worte, aber zu ihrer Verwunderung geschah nichts weiter. Sie fühlte sich nicht erröten, wie sonst bei Noras Komplimenten, und die rauchige Stimme, die sie gewöhnlich zum Schmelzen brachte, löste keinerlei Gefühle in ihr aus.
Sie spazierten durch grüne Wiesen, bestaunten die ersten Blüten an den Bäumen und hörten dem Vogelgezwitscher zu. Leuchtend gelbe Narzissen säumten die Wege. Der Frühling hielt Einzug.
Anne erfreute sich an den Gesprächen über Gott und die Welt, die sie mit Nora so gut führen konnte. Sie fühlte sich unbeschwert und leicht und genoss den Nachmittag in vollen Zügen. Doch es war nicht Noras Anwesenheit, die sie vor neuer Energie sprühen ließ, so kam es ihr vor.
»Hast du Lust, mich am nächsten Montag zu einer Lesung zu begleiten? Marie Werners ist in der Stadt.« Noras Blick ruhte erwartungsvoll auf Anne.
Sie hatten schon oft über die Romane von Marie Werners gesprochen und waren beide begeistert von ihren Werken. Sie schrieb sehr gefühlvoll, aber nicht zu kitschig, und sie hatte diese besondere Art, Alltäglichkeiten zu beschreiben, ohne langweilig zu wirken.
»Ach nein, das muss nicht unbedingt sein.« Anne konnte es selbst kaum fassen, als sie sich antworten hörte. Was war geschehen? Anne wurde bewusst, dass sie plötzlich nicht mehr das Bedürfnis verspürte, um jeden Preis so viel Zeit als nur möglich mit Nora zu verbringen. Reichte ihr von jetzt an ab und zu ein freundschaftlicher Plausch wirklich aus? War es das, was sie in ihrem tiefsten Inneren wollte?
Nur das leichte Prickeln auf ihrer Haut, wenn sie sich zufällig berührten, erinnerte Anne daran, dass sie vielleicht doch mehr empfand, als sie zugeben wollte.
Dennoch glaubte Anne plötzlich, ihre Gefühle endlich im Griff zu haben, vielleicht noch nicht wieder zu hundert Prozent, aber ihr Herz gehorchte ihr wieder besser und spielte nicht mehr völlig verrückt.
»Schade. Aber kein Problem. Dann sehen wir uns ein anderes Mal«, bemerkte Nora nicht ohne Bedauern in der Stimme, aber sie versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Nach einer Stunde hatten sie den Park einmal durchquert.
»Es ist an der Zeit, nach Hause zu gehen«, befand Anne. Sie umarmte Nora.
Beim Abschiednehmen hauchte Nora Anne einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Wenige Augenblicke später war sie hinter einer Hecke verschwunden.
Anne ließ die letzten Minuten Revue passieren. Etwas hatte sich verändert. Sie konnte nicht erklären, wie es plötzlich dazu gekommen war, aber Erleichterung machte sich in ihr breit. Das nervöse, unruhige Kribbeln in ihrem Bauch war kaum mehr wahrnehmbar.
Nach kurzem Nachdenken fasste Anne den Entschluss, dass sie mit Caro reden musste. Am besten noch heute Abend. Solange Lilly bei Peter war, hätten sie genügend Zeit, sich endlich wieder aufeinander zu konzentrieren und sich um ihre Beziehung zu kümmern. Vielleicht könnten sie das Wochenende zusammen an der Nordsee verbringen, um zueinanderzufinden. Bei dem Gedanken spürte sie eine unerwartete Vorfreude, ihr Herz vollführte wahre Freudensprünge, ihre Lippen formten ein zufriedenes Lächeln. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als mit Caro Spaziergänge am Strand zu machen, das Rauschen des Meeres im Ohr und seinen salzigen Geruch in der Nase.
Gemeinsam würden sie es schaffen. Ihre Liebe war stark genug, sie waren füreinander bestimmt. Das mit Nora war alles nur Spinnerei gewesen.
Beschwingt tanzte Anne nach Hause.
Nervös ging Anne in der Wohnung auf und ab. Es fehlte sicher
Weitere Kostenlose Bücher