Verirrte Herzen
Sie konnte Caros Nähe jetzt unmöglich ertragen.
Mit zitternden Knien stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich. Ihre Wangen waren noch immer von der Hitze des Nachmittags gerötet. Es stand ihr gut. Aber hatte es sich gelohnt? Was war der Preis für die Befriedigung ihrer Lust?
Sie schloss die Augen, und sofort sah sie Nora, wie sie sich verschwitzt eine schwarze Strähne aus dem Gesicht strich und ihr erschöpft zulächelte. Sie spürte einen Kloß im Hals, der ihr die Kehle zuschnürte. Was hatte sie nur getan?
Es würde Caro zutiefst verletzen, wenn sie erfuhr, was passiert war. Sie hatten sich doch ewige Treue geschworen.
Wie konnte es nur soweit kommen? Wieso hatte sie es zugelassen? Fragen über Fragen schwirrten in Annes Kopf umher und hinterließen ein schmerzhaftes Pochen, das es ihr unmöglich machte, sich zu bewegen.
Sie war mit Caro doch so glücklich gewesen. Nie zuvor hatte sie einem Menschen so vertraut, nie zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, so bedingungslos geliebt zu werden. Jetzt hatte sie alles zerstört, nur weil sie sich selbst nicht im Griff gehabt hatte.
Die Schuldgefühle nagten an ihr und gruben sich immer tiefer in ihr Herz, ließen ihr keine Ruhe mehr.
Aber Caro hatte sie doch förmlich in Noras Arme getrieben. Sie hatte sie in letzter Zeit völlig vernachlässigt. Sonst wäre das alles nicht passiert.
Allmählich stiegen Tränen in Annes Augen. Nora hatte ihr die Sinne vernebelt, sie konnte nicht mehr erkennen, was ihr wirklich wichtig war. Anne schluchzte.
Schließlich schaffte sie es, sich auf das Bett zu legen. Das Hämmern in ihrem Kopf war noch intensiver geworden. Sie wollte nur noch schlafen. Aber jedesmal, wenn sie die Augen schloss, spürte sie Noras Hände auf ihrer Haut, glaubte, ihren betörenden Duft einzuatmen. Verzweifelt drückte Anne ihr Gesicht in die Kissen. Es sollte endlich aufhören.
Irgendwann weinte sie sich in einen unruhigen Schlaf.
Caro machte den ganzen Abend über keinen Versuch, noch einmal mit Anne zu reden. Anne hatte deutlich signalisiert, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte, und so verbrachte Caro eine weitere Nacht auf der Couch im Wohnzimmer.
Vielleicht können wir heute Abend reden. Bitte. Es ist mir sehr wichtig. Ich liebe Dich doch. Du bist für mich das Wichtigste auf dieser Welt. Caro.
Anne hielt den unscheinbaren Zettel in der Hand und las ihn nun schon zum fünften Mal. Sie musste schlucken. Mit aller Kraft presste sie ihre Lippen aufeinander und merkte, wie sich ihre Zähne langsam ins Fleisch bohrten.
Reden. Ja, sie mussten reden. Daran führte kein Weg vorbei. Aber was sollte sie Caro denn sagen? Sie konnte ihr doch nicht die Wahrheit beichten, das würde Caro niemals verkraften. Aber ihr Gewissen ertrug die schwere Last nicht mehr länger.
Anne schleppte sich unter die Dusche. Kaum hatte sie das Wasser angestellt, kam die Erinnerung in ihr hoch, wie Nora und sie sich unter dem Wasserstrahl geliebt hatten. Noras makelloser Körper, ihre Brüste, die aufgerichteten Brustwarzen, die sie mit ihren Lippen umschloss. Anne schüttelte heftig den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. Doch es wollte ihr nicht gelingen.
Mechanisch wusch sie sich, trocknete sich ab und zog sich an.
Mit letzter Kraft raffte sie sich auf, um zur Arbeit gehen. Es war noch viel schlimmer als gestern. Sie konnte sich gerade noch soweit konzentrieren, um die richtigen Patienten und Patientinnen aufzurufen und nicht das falsche Körperteil zu behandeln.
Es war alles ein großer Fehler, schoss es ihr durch den Kopf. Aber sie konnte nicht mehr ungeschehen machen, was zwischen Nora und ihr passiert war. Ihre Beziehung zu Caro war doch viel wichtiger als ein einmaliger Liebesakt mit einer Frau, die ihr zufällig über den Weg gelaufen war und für die sie keine tieferen Gefühle empfand.
Das Klingeln des Handys riss sie aus ihren Gedanken. Noras Name blinkte auffordernd auf dem Display. Anne zögerte einen Moment, nahm den Anruf dann aber doch an.
»Ist bei dir alles in Ordnung? Können wir uns wiedersehen?« Nora klang viel weniger kühl und berechnend als sonst.
»Nein, besser nicht. Ich kann einfach nicht. Das musst du verstehen«, war alles, was Anne herausbrachte. Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, legte sie auf. Ihre Hände krallten sich in ihren Haaren fest. Sie konnte Noras Stimme nicht ertragen. Sie brauchte Abstand von ihr, von allen. Die einzige, mit der sie reden wollte, war Nadine.
Anne rief ihre beste Freundin an, um sich mit ihr
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