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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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ergattern.
    Auf dem Domplatz, der vom frischgefallenen Schnee leuchtete, stand einer jener Bettelmönche, wie man sie täglich vor den Wiener Kirchen antrifft: Gekleidet in eine hellblaue Soutane, hatte er sich eine Almosenbüchse an einem Riemen um den Leib geschnallt und bot selbige den Kirchgängern unter geräuschvollem Klappern dar. Gerade als wir näher kamen, sprang er auf wie ein Besessener und schrie in die Menge: «Geht’s zum Segen! Geht’s zum Segen!», sodass Abbé Melani und Domenico tüchtig erschraken. Das Rosenkranzgebet um neun war nämlich soeben beendet, und der Priester erteilte nun den Segen. Eine Horde von Menschen strömte eilig in den Dom, nicht wenige stolperten, und auch wir wurden mitgerissen im Strom schlammverschmutzter Stiefel, die Schnee und Matsch in den Eingang des Domes trugen. Den wenigen, denen es nicht gelang, in das Gotteshaus hineinzukommen, schrie der Bettler seine Flüche hinterher.
    «Hier in Wien werden die Sonntage ja wahrhaftig geheiligt», bemerkte Atto, als wir im Dom waren. Er schüttelte sich den Schnee von den Schuhen, während der Neffe ihm den vom Gedränge verrutschten Hut und Überzieher zurechtzupfte.
    «Nicht nur die Sonntage», erklärte ich lächelnd, meine Kleider ebenfalls glättend. «Allein hier in St. Stephan finden jeden Tag achtzig Messen und drei Rosenkranzandachten statt. Die Franziskaner feiern außerdem in regelmäßigen Abständen dreiunddreißig Messen am Tag, und in der Michaeierkirche gibt es alle Viertelstunde eine.»
    «Jeden Tag?», riefen Atto und sein Begleiter voll Verwunderung aus einem Munde.
    «Ich selbst habe es mir zum Vergnügen einmal ausgerechnet», setzte ich hinzu, «und herausbekommen, dass allein im Stephansdom jedes Jahr über vierhundert Pontifikalämter, fast sechzigtausend Messen und über tausend Rosenkranzandachten gefeiert werden, wozu etwa einhundertdreißigtausend Beichten und Kommunionen hinzukommen.»
    Nicht gezählt die Segensandachten, fügte ich vor den verblüfften Mienen meiner Gesprächspartner hinzu. In einer der über hundert Kirchen oder Kapellen der Stadt fand immer gerade eine statt, ja, die städtischen Behörden hatten die Geistlichkeit oftmals schon gebeten, sich auf eine gemeinsame Uhrzeit zu einigen, damit das Volk nicht in der verzweifelten Suche nach dem Segen von einer Kirche zur anderen laufen musste.

    Als wir weiter in den Dom hineingingen, sahen wir, dass es das Hochamt war und an etwa einem Dutzend Altären zugleich Messe gelesen wurde. Wo mochte sich die Gräfin Marianna Pállfy verbergen, vorausgesetzt, sie war hier? Die Suche nach ihr gestaltete sich schwieriger als gedacht.
    Während wir durch das Mittelschiff nach vorn gingen, ließ ich meine Blicke in alle Richtungen schweifen. Adelige und Minister mit gepuderter Perücke standen mit dem Rücken zum Altar, boten einander Tabak an, lasen Briefe und erzählten sich von Ereignissen, über die sie in den Zeitungen gelesen hatten. An die Säulen der Seitenschiffe gelehnt, kommentierten sie die neueste Mode oder schauten einem schönen Frauenzimmer hinterher … Die gigantischen Ausmaße des Stephansdoms garantierten Ungestörtheit und Schutz vor Spionen. Die einzelnen Altäre waren regelrechte Treffpunkte, und man hatte ihnen zu diesem Behufe sogar Decknamen gegeben: «Wir sehen uns am Hurenaltar», hörte man sagen, oder auch: «bei der Gahrkuchel», «auf dem Guldenplatz», «im Jungferngäßl» und «bei den Pasteyhäuseln». All dies waren unflätige Anspielungen auf die Tatsache, dass diese Altäre sehr gern von übel beleumdeten Frauen besucht wurden, gegen deren peinliche Anwesenheit die armen Priester nicht das Geringste ausrichten konnten und darob oft verspottet wurden.
    Die Sittenlosigkeit war so tief verwurzelt, dass einige Gottesdienste von daher schon schändliche Spitznamen erhalten hatten: So hieß die Messe um 10.30 Uhr in der Kapuzinerkirche unverblümt «Hurenmesse» und die um 11 im Stephansdom «Faullenzermesse».
    Doch die Metzen und ihre Kunden waren nicht die einzige Plage des Doms. Auch an diesem Morgen (überdies war es der Dominica in albis ! ) sah man allerlei Bauern und Weiber aus dem Volk mit Spanferkeln unter dem Arm oder auch mit Bütten voll gackernder Hühner, Gänsen und Enten durch die Kirche spazieren; bequeme Adelsleute ließen sich bis vor die Altäre tragen, worauf ihre Diener die Sänfte dann einfach in der Kirche stehen ließen, da sie zu faul waren, sie nach draußen zu bringen.
    Kurz, das Hochamt

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