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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Domenico.
    Verschwenderische Bankette hatte ich nicht wenige gesehen, als ich noch im Dienst des Vatikanischen Staatssekretärs Kardinal Fabrizio Spada stand. In seiner Villa auf dem Gianicolo-Hügel in Rom hatte ich selbst raffinierte Speisen, große Mengen Weins und üppige Gerichte zu Tisch getragen. Doch dieser Überfluss war sehr wenigen vorbehalten, also nichts im Vergleich zur wilden Opulenz, die auf jeder beliebigen Tafel Österreichs herrscht. Hier schlemmt man bei jeder Gelegenheit: bei Geburten und Hochzeiten, Abschiedsfeiern und Empfängen, aber auch, um einen Vertragsabschluss, einen Richterspruch oder ein Erbe zu feiern. Jedes Gewerbe versammelt sich außerdem auf eigene Rechnung: Händler oder Skribenten, Handwerker oder Geldleiher, Wächter oder Garden, und vielleicht auch die Diebe. Überall werden Fress- oder Saufgelage veranstaltet: zu Hause, am Arbeitsplatz, in einer beliebigen Kaschemme, während eines Ausritts, sogar im Krankenhaus oder bei Gericht.
    Keine österreichische Region ist davon ausgenommen: Allein in Tirol gibt es siebenhundertfünfzig Schänken, von Wien und Umgebung geht das Sprichwort «Ganz Wien ist ein Beisi», über die Steiermark gibt es Geschichten von Hochzeitsfeiern, wo an einem einzigen Abend acht Ochsen, hundert Schöpse, fünfzig Kälber, fünfzig Lämmer, einhundert Mastschweine, achtzig Spanferkel, sechs Wildschweine, einhundert Fasane, einhundert Truthähne, einhundertsechzig Rebhühner, achtzig Gänse, einhundert Wildenten, vierhundert Schnepfen, zweihundert Kapaune, achthundert Hühner, dreihundert Wachteln, vierhundert Tauben, vierhundert Pfund Speck, eintausendzweihundert Zitronen, eintausendzweihundert Orangen und einhundert Granatäpfel verschlungen wurden.
    In der französischen Hungersnot, schloss ich, hätte sogar der Allerchristlichste König Appetit auf die Küche der verhassten Wiener bekommen.

    Während ich dergestalt vor den verwirrten Mienen Attos und seines Neffen predigte, schwoll das Lärmen an den Nebentischen so stark an, dass die beiden abgelenkt wurden.
    Dies war die weniger poetische Seite der gastronomischen Freuden in der Kaiserstadt.
    Domenico sah sich um, und sein erstaunter Blick blieb bei den anderen Tischgenossen in der Gaststätte haften: Der eine benutzte die Serviette, um sich zu schnäuzen, sich damit am Kopf zu kratzen oder den Schweiß abzutrocknen; ein anderer schüttete sich Wein in den Schlund und gurgelte damit, worauf die Flüssigkeit ihm über Kinn und Hals floss; einer schenkte dem Nachbarn unaufhörlich Wein ein und versetzte ihm freundliche, aber heftige Stöße in den Magen, wenn er nicht sofort alles austrank; der Nächste zog mit der Gabel die dicksten Stücke des Bratens vom Tablett in der Tischmitte auf seinen eigenen Teller, was eine peinliche Fettspur auf dem Tischtuch hinterließ; wieder einer leckte den Teller ab oder kratzte die Reste mit dem Fingernagel ab; einer nieste oder hustete so stark, dass über dem Nachbarn ein Sprühregen niederging; einer spuckte; ein anderer, der sich die Zunge an einem heißen Bissen verbrannt hatte, riss brüllend den Mund auf; und als das Essen beendet war, versteckte einer die üppigen Reste rasch in seiner Serviette, um sie heimlich mitzunehmen.
    Bald schon zeichnete sich Bestürzung auf Domenicos Gesicht ab. Er warf mir einen fragenden Blick zu, den ich vorgab, nicht zu bemerken. Er wusste ja nicht, wie sehr die schlechten Tischsitten der Wiener den großen Prediger Abraham a Sancta Clara und andere berühmte Autoren beschäftigt hatten, wie oft sie die Gläubigen geduldig ermahnt hatten, sich weniger viehisch beim Essen zu benehmen!
    «Domenico, ich höre Schreie. Was ist geschehen?», fragte Atto, während er an der Forelle herumstocherte.
    An einem der mittleren Tische hatte sich eine recht unerfreuliche Szene abgespielt. Einer großen Gesellschaft war ein Spieß mit Bratenstücken serviert worden, der frisch aus dem Ofen kam. Um eine Schweinsstelze von der Asche zu befreien, hatte einer der Tischgenossen heftig auf den Spieß gepustet, und die heißen Glutreste waren der Dame ihm gegenüber direkt in die Augen geflogen. Ihr Ehemann hatte von dem Schuldigen auf der Stelle Entschädigung für dieses Unrecht gefordert. Sofort war zwischen den vom übermäßigen Weingenuss erhitzten Gemütern ein kleines Handgemenge entfesselt, das vom Personal nur mühsam geschlichtet werden konnte. Leider hatte der Gatte der beleidigten Dame noch Zeit gefunden, den glühend heißen Spieß in

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