Veritas
war wie ein riesiger Jahrmarkt: ein kunterbuntes Durcheinander von Menschen und Waren, begleitet von ständigem Stimmengewirr.
Zwar hatte Ihre Kaiserliche Majestät mittels eines Reichspatents Kommissare ernannt, damit diese durch die Kirchen zögen und denjenigen, die durch Schwatzen oder ungebührliches Verhalten die Messen störten, Bußgeld oder Arrest androhten. Doch diese Maßnahme hatte wenig gefrommt. Die Zirkulare des bischöflichen Konsistoriums klagten, dass « bey dem gemaynen Man das Fluechen und Schelten , wie auch das Vollsaufen und ungeschäuchte Schwäzen in denen Kirchen widerumben von neuem in Schwung zu gehen anfangen will ». Allgemeine Gepflogenheit sei es, « hin und wieder zu spatzieren , dabey alleerhand Unterredungen zu führen , Welt-Händel abzureden , … ja diejenige , so darvon abmahnen , auszulachen , mit ehrenrührigen Worten schimpflich abzufertigen , und denselben noch bedrohlich zu seyn … »
Die Messe war zu Ende. Wieder standen wir vor dem Dom und sahen den Gläubigen zu, die aus der Kirche traten und sich allmählich unter die vorbeiziehende sonntägliche Menge mischten.
«Domenico», sagte Atto, «es ist zwar kühl, doch ich möchte eine kurze Rundfahrt in …»
«Einen Moment, Herr Onkel.»
Atto Melanis Neffe hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt. Er beobachtete eine Gruppe dreier Mädchen, aus der besonders eines von sehr großer Statur mit feuerrotem Haarschopf herausstach. Sie trug einen Hut, der für diesen Schneetag viel zu leicht war.
«Da ist sie, Herr Onkel! Sie macht sich gerade auf den Heimweg.»
«Folgen wir ihr! Junge, du kommst mit uns», sagte Melani zu mir gewandt.
Die drei jungen Frauenzimmer hatten sich gegen den Menschenstrom auf die Kärntnerstraße zubewegt und drangen nun durch das große sonntägliche Treiben, das im Stadtzentrum zusammenfloss. Wir folgten den Jungfern in geringem Abstand, ohne ihnen freilich allzu nahe zu kommen. Wir wollten nicht den Eindruck erwecken, unsere bizarre Dreiergruppe (ein blinder Alter, ein Kleinwüchsiger und nur ein Jüngling im heiratsfähigen Alter, also Domenico) wolle den liebreizenden jungen Damen Avancen machen.
«Sobald sie langsamer gehen, näherst du dich ihnen und stellst dich vor», befahl Atto dem Neffen. «Dann gibst du ihnen den Brief.»
«Welchen Brief?», schrak ich auf, denn ich dachte an den Brief, worin Eugen den Franzosen anbot, seinen Kaiser zu verraten.
«Nur ein Billett mit der ergebenen Bitte zweier italienischer Kavaliere: die Ehre, von der Gräfin empfangen zu werden und ihr unsere Dienste anzubieten.»
Die Gelegenheit bot sich schon nach wenigen Schritten. Die drei Jungfern hielten an, um eine alte Ordensfrau zu begrüßen, welche alsbald ihren Weg fortsetzte, blieben dann aber noch stehen. Domenico näherte sich und machte mit einer anmutigen Verneigung seine Aufwartung. Er war ein schöner Jüngling und gentil, mit einer sanften, freundlichen Stimme. Offensichtlich hatte er die besten Worte gewählt, um sich vorzustellen, denn wir sahen, wie seine Schmeichelei das Gesicht der Pállfy erhellte und einen Schatten von Traurigkeit verjagte. Ein heimlicher Kummer?, dachte ich. Artig unterhielt sich die Gruppe einige Augenblicke lang. Domenico griff in die Tasche seiner Weste, vielleicht hatte er Attos Billett schon in der Hand.
Doch schon seit einigen Minuten hörte man ein bekanntes, lautes Geräusch näher kommen. Eine Kutsche, ein schöner Zweispänner, fuhr rasselnd direkt auf die Pállfy, ihre Freundinnen und Domenico zu. Der Postillion grüßte die Gräfin mit einem Wink, welche sogleich ihre Aufmerksamkeit von Attos Neffen abwandte und den Gruß erwiderte. Die Kutsche war nunmehr zum Stehen gekommen, die Türen öffneten sich, und die drei Mädchen schickten sich an einzusteigen.
«Das Billett, hat er ihr das Billett gegeben?», fragte Melani eifrig, den Kopf vorgestreckt wie ein angebundenes Streitross.
In ebendiesem Moment entstiegen der Kutsche zwei Lakaien und halfen der Geliebten des Kaisers beim Einsteigen. Als sie auf dem Trittbrett war, reichte Domenico ihr das Billett. Sie nahm es entgegen, gab es ihm aber sogleich mit höflicher Geste zurück, ohne es zu öffnen. Inzwischen war ich mit Atto am Arm näher getreten. Kurz bevor sie in der Kutsche verschwand, sah ich, wie das Gesicht der Pállfy sich verzog und den Ausdruck heimlichen, unterdrückten Weinens annahm. Die Kutsche setzte sich in Bewegung, Domenico grüßte ein wenig schüchtern mit der Hand, aber es
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