Veritas
bemerkte es auch Cloridia, sah mich fragend an, und ich antwortete mit stummer Verwunderung. Ich hatte keine Ahnung, was unsere gute Freundin so bedrängen mochte.
Am Ausgang warteten Atto und Domenico, ob eine junge Dame, die der Beschreibung entsprach, auftauchen würde, doch vergebens.
Es gebe noch eine andere Möglichkeit, erklärte Domenico, nämlich dass die Gräfin Marianna Pállfy sich zum Gottesdienst um halb zehn, der Messe des Adels, in den Stephansdom begeben würde. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als einem weiteren Gottesdienst beizuwohnen, in der Hoffnung, dann mehr Glück zu haben.
Da noch ein wenig Zeit bis zum Beginn der Messe blieb, verweilten wir in der Kirche des Klosters. Cloridia suchte mit Blicken nach Camilla; sie wollte erfahren, was ihre Seele bedrückte. Atto hingegen hatte sich von Domenico zur Fräuleinmeisterin des Konvents geleiten lassen, in der Hoffnung, sie würde ihn zur Pállfy führen. Ich war ihnen gefolgt.
«Schwester Strassoldo?», fragte Atto in höflichem Ton auf Italienisch, da der Nachname der Ordensfrau italienisch war.
« Von Strassoldo, bitte sehr!», antwortete barsch die Schwester. Sie war von mittlerem Alter, hagerer Gestalt und hatte kleine, blaue, zornig blitzende Augen.
Atto wurde verlegen: Das «von» zu vergessen, welches das adelige Geblüt der Familie Strassoldo bezeugte, war gewiss kein guter Auftakt.
«Ihr gestattet, dass ich mich entschuldige, ich …»
«Ihr seid entschuldigt, doch ich ebenfalls. Ich habe eine Menge zu erledigen und spreche kein Italienisch. Die Chormeisterin wird all Euren Erfordernissen nachzukommen wissen», beschied ihn die von Strassoldo knapp, indem sie Melani und Domenico den Rücken zukehrte. Sie blieben betroffen, vor allem aber gedemütigt zurück, da auch die anderen Klosterfrauen Zeugen des kurzen Gesprächs geworden waren. Nicht einmal gegenüber einem Blinden konnte die mürrische Fräuleinmeisterin zartfühlende Umgangsformen wahren.
«Herr Abbé», flüsterte ich ihm ins Ohr, während die anderen Nonnen sich entfernten, «hier sind die Leute anders als in Italien und vielleicht auch in Frankreich. Wenn sie kein Gespräch wünschen, machen sie kurzen Prozess.»
«Oh, lass nur», schnitt mir Melani höchst verärgert seinerseits das Wort ab, «ich habe sehr wohl verstanden: Diese alte Gans italienischer Abstammung will mit ihren einstigen Landsleuten nichts zu tun haben. Es ist immer dasselbe: Nur weil sie ein, zwei Generationen weiter sind, tun sie so, als hätten sie ihre Wurzeln vergessen. Ganz genauso wie die Habsburger und die Pierleoni.»
Der zweite Name war mir vollkommen unbekannt. Was hatte dieses italienische Geschlecht mit den glanzvollen Habsburgern, der Familie des Kaisers, zu tun?
«Du weißt nicht, wer die Pierleoni sind?», fragte Atto mit einem boshaften Lächeln.
Der offiziellen Geschichtsschreibung zufolge, erklärte er, war das Reich der Habsburger aus der Asche des Römischen Reiches entstanden, das durch die Völkerwanderung der Goten und Langobarden unterging. Mit heldenhafter Tapferkeit hatte Karl der Große die Langobarden aus Italien vertrieben und war zum Römischen Kaiser ausgerufen worden. Dank der allgewaltigen Tugend des Deutschen Otto des Großen waren später der Name, die Insignien und die Macht des Römischen Reiches auf die ruhmreiche deutsche Nation übergegangen, und gegenwärtig ruhten sie auf dem österreichischen Geschlecht der Habsburger, einer Familie, darin die antiken Cäsaren wahrhaft wiedererstanden waren.
«Aber das sind die Lügenmärchen, die die Geschichtsschreiber erzählen», zischte Atto, wobei er einen hämischen Blick in Richtung der Strassoldo warf, «denn die Wahrheit über die Ursprünge der Habsburger ist eine Angelegenheit, an die keiner gerne rührt.»
Begonnen hat die Geschichte der habsburgischen Kaiser mit Rudolph L, der im Jahr des Herrn 1273 den Thron bestieg. Und in dem Punkt waren sich alle einig.
«Was aber vor diesem Tag geschah», sagte Abbé Melani, «weiß keiner.»
Einigen Gelehrten zufolge muss der Ursprung des habsburgischen Blutes auf einen gewissen Guntram zurückgehen, dessen Sohn um das Jahr 1000 ein Schloss mit Namen Hasburg erbaut haben soll. Andere beriefen sich auf einen gewissen Ottobert um 654, wieder andere auf Aeganus, den königlichen Hausmeier von Frankreich, welcher Gerbera ehelichte, die Tochter der Heiligen Gertrud.
Es gab jedoch auch Gelehrte, die empört erwiderten, dass die Habsburger nicht mal im Traum
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