Veritas
wurde ihm nicht geantwortet.
«Verflucht», schimpfte Atto zähneknirschend, als er vom Neffen persönlich erfuhr, wie das Manöver ausgegangen war. «Diese verliebten zwanzigjährigen Dinger haben nah am Wasser gebaut und begreifen gar nichts. Eine Gelegenheit wie diese wird sich uns nicht mehr so leicht bieten.»
73. Stunde: Der Adel speist zu Mittag. Der mittlere Stand begibt sich in die Kaffeehäuser, in den Theatern beginnen die Vorführungen.
Beim Abschied hatte Abbé Melani sich für die Mittagszeit mit mir verabredet: Wir wollten in einem öffentlichen Gasthaus zusammen speisen. Ich hatte ihm erklärt, dass es besser sei, vor dreizehn Uhr zusammenzukommen, da in Wien danach nur noch der Adel zu Mittag esse und die Preise in schwindelnde Höhen stiegen.
«Gut zu wissen», hatte er erwidert, «wir werden uns also nicht vor dreizehn Uhr sehen. Ich schätze es, die Tafel ausschließlich mit Personen meines Ranges zu teilen.»
Zur verabredeten Zeit führte ich ihn und Domenico in ein Gasthaus in der Nähe der Hofburg. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, draußen begann es schon wieder zu schneien.
Sofort bat ich den Besitzer, uns an einen der abgelegenen Tische zu setzen. Der Kellner kam, um die reichbestückte Liste der Tagesgerichte herunterzubeten, wo es nicht an steirischen, polnischen, ungarischen, böhmischen und mährischen Spezialitäten fehlte, ja, für wenige Groschen mehr gab es sogar exotische Kleinigkeiten: Pomeranzen, Austern, Mandeln, Kastanien, Pistazien, Reis, Zibeben, spanischen Wein, holländischen Käse, Mortadella aus Cremona, Konfekt aus Venedig und indische Gewürze.
Wir bestellten, und bald wurde uns ein zartes Kalbsfilet, eine auf Holzkohle gegarte rosa Forelle und köstliche Palatschinken mit Creme serviert. Wie immer überstieg die Menge den Bedarf einer Person bei weitem. Atto und sein Neffe waren aufs angenehmste überrascht.
«Ich wusste gar nicht, dass man in Wien so gut isst! Ist dies womöglich ein besonderes Lokal?», fragte Domenico.
«Wir sind in einem Gasthaus, wie es in Wien viele gibt. Ich muss allerdings dazu sagen, dass man in dieser Stadt noch in der ärmlichsten Spelunke die schmackhaftesten Suppen, das knusprigste Backwerk und den saftigsten Braten essen kann», lobte ich meine Wahlheimat voller Stolz. «Alle Nahrungsmittel sind nicht nur von guter, sondern immer nur von der allerbesten Qualität, die Portionen stets großzügig, jedes Gericht frisch zubereitet. Und das alles zu populären Preisen.»
«In Paris dagegen findet man nur mehr ranzige Torten, Brot so hart wie Stein und Fische aus Abrahams Zeiten!», rief der Abbé voller Bitterkeit aus.
Innerlich jauchzte ich über Melanis Begeisterung und schilderte ihm ausführlich die gastronomischen Besonderheiten des paradiesischen Bodens, auf dem zu wandeln ich die Ehre hatte. Im Grunde aber hoffte ich vor allem, Atto abzulenken, damit seine Wachsamkeit nachließ und ich ihn so auf die Fragen vorbereiten konnte, die ich ihm in Kürze über den Tod von Danilo Danilowitsch stellen wollte. Ich kannte Melani – würde ich ihn direkt mit meinem Anliegen konfrontieren, kämen lediglich schlaue und heuchlerische Antworten zurück.
Wenn sich der Reichtum einer Nation an ihrer Nahrung messen würde, hub ich vor meinen beiden verblüfften Tischgenossen feierlich an, dann sei es in Österreich so, als hätte König Midas hier geweilt, um jedes Ding in Gold zu verwandeln. Eine normale dreiköpfige Familie isst ein halbes Kilo Fleisch am Tag, was in Rom unvorstellbar wäre; die Armen erhalten jede Woche zwei Pfund gutes Rindfleisch pro Person, und sogar die Reisenden aus Deutschland, wo man doch auch häufig schöne Rippenstücke zu essen pflegt, sind bass erstaunt angesichts der Menge an ungarischen Rindern und Ochsen, die jedes Jahr von den Wienern verzehrt werden: Es sind viele Tausende.
«Allein im Kloster der Barfüßigen Augustiner kommen pro Jahr zwanzig Rinder, hundert Hammel und Schafe, fünfundzwanzig Schweine, sechzig Enten und über vierhundert Hühner, Kapaune und Hühnchen in den Kochtopf», zählte ich beiläufig auf. «Der reiche wie der arme Mann können dasselbe Fleisch kaufen, denn der durchschnittliche Preis ist für jedes Stück gleich, damit derjenige, der weniger Geld hat, sich nicht mit den schlechteren Teilen begnügen muss.»
«In Paris hingegen kostet das Ochsenfleisch neun oder zehn Julier pro Pfund, das kann sich fast nicht einmal mehr der König leisten!», seufzte
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