Veritas
haben, aber ein Pfand einsetzen möchten, verbietet, beim Spiel ihre Augen, Hände, Füße oder Nase zu verwetten. Es gibt durchaus Leute, die das getan – und verloren haben. Auch darum musste Kaiser Leopold vor etwa fünfzehn Jahren die öffentliche Verdammung des Glücksspiels erneuem, da es die Menschen in Elend und Verzweiflung stürzt.»
Während Simonis mir noch die Geheimnisse des Wiener Nachtlebens erläuterte, wurde die Fahrt der Kalesche durch eine Menschenansammlung aufgehalten.
«Pennal, was zum Teufel passiert denn jetzt schon wieder?», fragte Simonis.
«Verzeiht, Herr Schorist», sagte dieser mit demütiger Stimme, «dieser Prozession habe ich beim besten Willen nicht ausweichen können.»
«Was ist denn heute nur los?», wunderte ich mich, da so viele Prozessionen innerhalb derart kurzer Zeit nicht einmal in einer so bigotten Stadt wie Wien üblich waren.
«Diesmal ist es die Innung der Messerschmiede. Und auch sie zieht zum Stephansdom», teilte uns Penicek mit.
«Dort scheint eine große Versammlung zum Gebet stattzufinden. Weißt du etwas darüber, Pennal?», fragte der Grieche.
«Leider nein, Herr Schorist.»
Tatsächlich wurde die Straße durch die Ankunft einer Prozession versperrt, die sich mit durchdringendem Glockengeläut ankündigte. An ihrer Spitze gingen zwei Straßenkehrer, die den Schnee zur Seite schaufelten, um dem Venerabile Platz zu machen. Wie es in Wien Brauch war, mussten wir alle aussteigen und eine Minute lang niederknien, das Kreuzzeichen machen und uns an die Brust schlagen, idem sämtliche Passanten in der Umgebung.
«Verflucht, wir werden zu spät kommen», jammerte Simonis, während die Kälte uns in die Knochen drang.
Unterdessen kam die Prozession näher, angeführt vom Priester, der das Allerheiligste hocherhoben vorantrug. In der Menge bemerkte ich viele weinende Menschen. Neben uns hatte eine Gruppe junger Leute einen Gleichaltrigen am Nacken gepackt und ihn zu Boden geworfen, um ihn zum Knien zu zwingen. In der Kaiserstadt waren die Protestanten (der Unglückliche musste einer von ihnen sein) bei solchen Anlässen nämlich nur gehalten, den Hut abzunehmen, doch in Wirklichkeit wurden sie häufig gewaltsam genötigt, sich wie alle anderen hinzuknien. Man erzählte, dass ein solcher Zwischenfall sich einmal sogar mit dem preußischen Botschafter ereignet habe, den der Kaiserhof dann öffentlich um Entschuldigung bitten musste.
Die Verspätung wurde derweil gravierender: Andere Kutschen hatten wegen der Prozession anhalten müssen. Ihre Insassen hatten sich im Wagen niedergekniet. Das Volk auf der Straße warf ihnen feindselige Blicke zu. Wären wir in den Vorstädten gewesen, wo die Sitten immer etwas rauer sind als in der Stadt, hätte man sie wahrscheinlich mit Gewalt gezwungen auszusteigen und sich auf die Knie zu werfen.
Beim Klang des Glöckchens (das wusste ich aus Erfahrung) hatten überdies alle Bewohner der umliegenden Häuser zu arbeiten aufgehört, um sich dem feierlichen Ritual anzuschließen.
Sogar eine Marionettentheatergruppe, die bis eben noch ein skurriles Schauspiel dargeboten hatte, war nun wie durch Zauber versteinert: Beim Vorbeizug des Sanktissimums verwandelten sich die Gaukler in vorbildliche Gläubige.
Kaum war das Ende des frommen Umzugs um die Straßenecke gebogen, kehrte alles und jeder zu seiner Beschäftigung zurück, als wäre nichts geschehen.
«Ich verstehe ja, dass man beim Karten- oder Würfelspiel alles riskiert und verliert. Diese Spiele sind ja dafür bekannt, dass sie zum Ruin führen», sagte ich zu Simonis, als die Kalesche sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. «Aber Schach? Wer lässt sich denn freiwillig von einem Schachspieler rupfen?»
«Gewiss könnte Hristo Euch mehr darüber sagen. Doch jedermann weiß, dass Schach die erhabenste und edelste aller Zerstreuungen ist. Viele behaupten, das Schachspiel sei aufgrund seiner Subtilität das einzige Spiel, das sich für Fürsten und Könige eignet. Ihr habt vielleicht gehört, dass es im Wiener Adel Mode ist, Unterricht in der Schachspielkunst zu nehmen, so wie man es einst in der Musik, der Philosophie oder Medizin tat.»
Tatsächlich hatte ich während meiner Inspektion der Rauchabzüge in den Häusern der Reichen gesehen, dass dort im Salon fast immer ein Schachspiel aus feinintarsiertem Holz oder aus schönen farbigen Steinen zu finden war.
«Die besten Schachfiguren werden heutzutage in Lyon, Paris oder München hergestellt», fügte mein Gehilfe
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