Veritas
Fasane, Rehe und Hirsche, die Beute der Jagdleidenschaft des Kaisers.
«Seltsam», sagte Simonis, während er sich umblickte, «Hristo müsste schon längst hier sein. Diese verflixte Prozession, ich weiß nicht mehr, ob wir zu spät dran sind oder er.»
«Hier sind Spuren», bemerkte ich nach einigen Minuten vergeblichen Wartens.
Tatsächlich ließen sich in dem Mosaik aus Stapfen und Streifen, das hinter jenem verbotenen Eingang am Boden zu sehen war, die frischen Fußabdrücke eines Menschen deutlich erkennen. Während wir sie untersuchten, begann der Schnee dichter zu fallen.
«Was meinst du, Simonis, könnten das seine Spuren sein?»
«Der Fußgröße nach zu urteilen, durchaus, Herr Meister.»
So begannen wir, der Spur zu folgen, obwohl unter den unaufhörlich fallenden Flocken die Sicht immer schwieriger wurde.
Uns blieb nicht viel Zeit, bald würden die Spuren ganz zugedeckt sein. Die Abdrücke führten nach rechts auf eine lange, von einer doppelten Baumreihe gesäumte Allee, die sich, wie ich wusste, durch den ganzen Prater bis zur Donau hinzog. Gleich am Anfang der Allee gab es jedoch eine Abzweigung nach links.
«Er ist weder rechts noch links abgebogen», erklärte Simonis, die Spuren betrachtend, «sondern zwischen den beiden Wegen auf den Wald zugegangen. Seht Ihr auch, dass der Abstand zwischen den Schritten größer wird?»
«Dann hat er zu laufen begonnen.»
«So scheint es, Herr Meister.»
Kein Ort kann unter einer Schneedecke schöner wirken als der Prater. Bäume, Hügel, Büsche, bewaldete Ebenen, moosbewachsene Felsen – der Prater war eine einzige makellos weiße Fläche. In der Ferne, wo unser Blick nicht hinreichte, strömten die kleineren Arme der Donauschleife in schäumenden Windungen dahin.
Schon in alter Zeit ward die Donau gepriesen als Königin der Flüsse Europas und einer der wichtigsten Ströme der Welt. Nicht zufällig vergleicht Ovid sie mit dem Nil in Ägypten, und bemerkenswert ist, dass sie, wie der kleinere Po in Italien und die Themse in England, im Gegensatz zur Natur aller Wasserläufe der Erde gen Osten fließt: Nur in Ungarn wendet sie sich kurz nach Westen, und in Mösien biegt sie ein wenig nach Norden ab, wodurch sie, wie oftmals bemerkt wurde – Gott sei Dank! –, den Marsch der osmanischen Völker nach Westen erschwert. Stets war die Donau auch eine überaus wichtige Lebensader für die Kaiserliche Urbe. Es gab zahlreiche Anlegestellen für den Handel mit Wein und Nahrungsmitteln, nebst einer großen Anzahl kleinerer Häfen für die Beförderung von Personen und die Fischerei. Auch in dem Kanal, der den Prater von einem Inselchen trennte, das Die Schütt geheißen wurde, gab es einen solchen Anlegesteg. Dort hatten Cloridia und ich während des sonntäglichen Spaziergangs, den wir vor einigen Monaten im Prater unternommen, mit einigen Bootsverleihern ein etwas mühsames Gespräch auf Deutsch geführt.
Schnee und Wind wurden immer stärker. Jupiter pluvis und sämtliche Winde des Erdkreises schienen ihre je eigenen Wetterlaunen im Gefecht miteinander verschärft zu haben, um im April noch einmal den Januar zurückzuholen. Der Wind blies uns direkt in die Augen, schon mussten wir sie mit den Händen abschirmen, um ohne zu stolpern vorangehen zu können.
«Siehst du etwas?», fragte ich Simonis, schreiend fast unter dem Heulen des Windes.
«Da vorne, auf der Erde!»
Eine Tasche. Ein alter Quersack aus Stoff, halb unter dem Schnee begraben. Darin steckte ein quadratischer Gegenstand, so groß wie ein Teller. Wir wischten die Flocken beiseite, öffneten den Sack und erblickten, in ein rotes Tuch gehüllt, ein großes Schachbrett aus massivem Holz, dessen Boden mit einer Platte aus verziertem Eisen verstärkt war, und ein Säckchen voll kleiner, fingergroßer Gegenstände.
«Herr Meister, das ist Hristos Schachbrett.»
«Bist du sicher?»
Er öffnete das Säckchen, zog einen schwarzen Bauern heraus und dann ein Pferd, dessen weiße Farbe schon halb abgeblättert war: Wie in einem verkleinerten Kosmos schienen die Figuren das Weiß des Schnees und das Schwarz der trockenen Büsche abzubilden, welche den ganzen Prater mit einer zweifarbigen Spitzenstickerei schmückten.
«Das sind seine Schachfiguren. Wenn er um Geld spielt, benutzt er immer diese», sagte Simonis, während ich den traurigen, einsamen Sack und seinen Inhalt an mich nahm.
«Gehen wir weiter», drängte ich, in Wahrheit jedoch schon besorgt hinter mich schauend.
Das letzte Stück
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