Veritas
Weges, mitten durch ein Wäldchen weißgepuderter Bäume hindurch, führte fast nur noch bergauf. Keuchend unter der Anstrengung und steif vor Kälte, marschierten wir weiter, bis wir feststellen mussten, dass Hristos Spuren (wenn es wirklich seine waren) mittlerweile fast ganz unter dem fallenden Schnee verschwanden. Die letzten Fußabdrücke verloren sich vor einer kleinen Anhöhe, die nun vor uns aufragte, um den ansteigenden Weg, mit dem wir bis jetzt gerungen hatten, noch unerfreulicher zu machen. Hinter dieser Erhebung musste endlich die Donau zu sehen sein.
«Lass uns umkehren», schlug ich vor, «ich möchte nicht, dass …»
Ein Geräusch, weit weg, doch deutlich vernehmbar, verschloss mir die Lippen.
Simonis und ich sahen uns an: Es waren knirschende Schritte im Schnee. Plötzlich erstarb das Geräusch. Der dichte Schneefall beschränkte die Sicht auf wenige Meter.
Ohne ein Wort zu sagen, bedeutete Simonis mir, ihm auf den Gipfel des Hügels zu folgen. Mit gesenktem Kopf und gekrümmtem Rücken, als müssten wir uns auf einem Feld zwischen Maispflanzen verstecken, erklommen wir, so schnell wir konnten, den Hügel. Oben angekommen, öffnete sich dank einer günstigen Windböe der Blick auf die tausend Inseln der Donauschleife, und ich entsann mich eines Buches, das ich vor unserer Abfahrt nach Wien in Rom gelesen hatte. Es hatte mich belehrt, dass der glorreiche Fluss im deutschen Donaueschingen entspringt, wo seine Wasser kristallklar und still aus den geheimnisvollen Tiefen des Schwarzwaldes, von den Antiken Sylva Martiana genannt, hervortreten und sich dann mit einer Quelle auf einem Friedhof vereinigen, die zu den Ländereien der gräflichen Herren von Fürstenberg gehört. Und während mein Blick auf diesem berühmten Gewässer ruhte, das gut vierhundert Meilen in Deutschland zurückgelegt hatte, um bis zu uns zu gelangen, vergaß ich fast, was wir hier oben machten, und kaum hörte ich die Stimme von Simonis, der rief:
«Herr Meister, Herr Meister, kommt her, schnell!»
Hristos Körper lag bäuchlings unter einem Baum. Wir mussten beide mit aller Kraft ziehen, um seinen Kopf zu befreien, der mit unerhörter Brutalität bis auf den Grund eines in den frischen Schnee gegrabenen Lochs gepresst worden war. Knapp unterhalb des Nackens entdeckten wir eine tiefe Wunde von einem Messerstich, die seinen Rücken mit Blut getränkt hatte. Wahrscheinlich hatte das nicht gereicht, darum hatten sie seinen Kopf in das Loch gedrückt, bis Herz und Lungen versagten.
Als wir ihn umdrehten, sahen wir, dass sein ganzes Gesicht mit blauen und weißen Flecken bedeckt war. Er schien noch nicht lange, ja, erst seit sehr kurzer Zeit tot zu sein.
«Verflucht! Armer Hristo, unglückseliger Freund, was haben sie dir getan?», schrie Simonis, Entsetzen, Zorn und Schmerz zu gleichen Teilen in der Stimme.
Hristo Hadji-Tanjov, der schachspielende Student, hatte sein junges Leben auf den schneebedeckten Gefilden des Praters ausgehaucht. Seine Heimat Bulgarien würde er nie Wiedersehen.
Ich erhob mich. In der Nähe bot sich mir ein gänzlich anderes Bild: drei kleine Schlitten, an einen Baum gebunden, dort vermutlich von einer Gruppe Spielkameraden zurückgelassen. Simonis betete leise, und während auch ich mich bekreuzigte, fragte ich mich, ob Gott uns diese drei Schlitten, das unschuldige Zeugnis kindlicher Freude, zeigte, um uns in unserem irdischen Jammer zu trösten.
«Was tun wir jetzt?», fragte Simonis schließlich.
Hristo war mindestens doppelt so groß wie ich und anderthalb mal breiter. Ihn wegzutragen, war schlechterdings unmöglich.
«Wir sollten ihn irgendwie begraben», überlegte ich, «oder … Moment mal.»
Ich hatte etwas bemerkt. Während sie ihn erstickten, hatte Hristo eine Hand in den Schnee gebohrt, der Arm lag ausgestreckt da, und die Hand war tatsächlich fast gefroren. Die andere lag dagegen dicht am Bauch. Wahrscheinlich hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich zu entwinden, während sie ihn zu Boden drückten. In der ausgestreckten Hand hatte ich etwas gesehen. Ich trat näher, öffnete, bebend vor Erschütterung, gewaltsam die Finger und zog den Gegenstand hervor. Simonis stand schon neben mir.
«Ein König aus dem Schachspiel. Der weiße», bemerkte er.
«Während der Flucht vor seinen Verfolgern hat Hristo also das Schachbrett zurückgelassen, das wir eben entdeckt haben, mitsamt den Figuren. Nur diesen weißen König hat er in der Hand behalten. Aber aus welchem Grund?»
«Ich weiß es
Weitere Kostenlose Bücher