Veritas
Schnabelhieben, aufgehetzt vom wilden Geschrei der Zuschauer, welches durch das Echo in dem großen Hohlraum hundertfach verstärkt wurde. Gerade packte der größere der beiden Vögel den Hals des anderen fest mit einer Kralle, drückte seinen Kopf zu Boden und hackte erbarmungslos mit dem Schnabel auf ihn ein. Die Menge applaudierte und trieb die beiden Tiere heftig gestikulierend an: den einen, zu töten, den anderen, zu sterben.
«Nun, Simonis», entsann ich mich meiner Frage, «was bedeutet ‹Zuseher oder Herrl›?»
«Zuseher sind diejenigen, die herkommen, um Wetten abzuschließen», sagte Simonis, während ich bestürzt der grausamen Vorführung folgte. «Herrl sind die Besitzer der Tiere, auf die gewettet wird.»
Populescu näherte sich uns.
«Nichts zu machen, ich kriege nicht heraus, ob der Junge noch hier ist. Wir müssen ihn suchen. Er ist leicht zu erkennen, denn er hat nur ein Auge, das andere wird von einer Binde verdeckt. Er ist dreizehn Jahre, mager wie ein Zahnstocher und etwa so groß wie ich.»
Während Populescu sich wieder entfernte, nach links und rechts grüßend, fragte ich Simonis:
«Was treibt Populescu hier?»
«Er kratzt ein paar Groschen zusammen, indem er die Einfaltspinsel mit getürkten Wetten betrügt. Das Hetzhaus ist vor einigen Jahren von zwei holländischen Kaufleuten eröffnet worden und hat seitdem einen ungeheuren Erfolg. Tierkämpfe sind in Wien seit über einem Jahrhundert sehr beliebt, und es gibt viele, die sich mit den Wetten über Wasser halten. Der Junge, den wir suchen, ist sicher einer von den Betrügern, die sich an Orten wie diesem herumtreiben, auch wenn Populescu es nicht offen sagt. Jetzt wollen wir getrennt suchen. Wer das kleine Einauge zuerst sieht, gibt den anderen ein Zeichen.»
Als ich allein war, sah ich mich um. Ringsumher wurden in zahlreichen Käfigen Tiere aller Art gefangen gehalten: nicht nur Hähne, sondern auch Hunde, Stiere, Ochsen, Wölfe, Wildschweine und Hyänen, die den Ort mit ihrem wütenden Angstgeheule in einen wahren Höllenkreis verwandelten. Aus den strahlenförmig angeordneten Kammern konnte jede Bestie direkt an den Ort des Gemetzels geführt werden. Es war, als hätte ein böser Zauberer Noahs Arche in einen Todestrakt verwandelt. Gestank, Geschrei, Blut und Gejaule ignorierend, verkaufte ein fröhlicher Händler am Eingang Brot, Würste und billigen Wein aus Schwechat.
Unterdessen hatte der größere Hahn seinen Rivalen bezwungen, der nun halbtot aus der Arena geschafft wurde. Der Besitzer des Siegers hob seinen Liebling in die Höhe und nahm die Jubelschreie des Publikums entgegen. Ich sah Gold- und Silbermünzen von Hand zu Hand gehen und die Augen der Gewinner vor Freude, jene der Verlierer vor Wut aufblitzen.
Da hörte ich durch den Krawall der Wettenden einen Schrei:
«Da ist er!»
Ich hob die Augen: Populescu zeigte mir eine Gestalt, die sich flink durch den Wald aus Beinen, Armen und derben Gesichtern bewegte. Jetzt sah ich ihn vor mir: blass und ausgezehrt, das rechte Auge verbunden. Ich versuchte ihn abzufangen, doch der Junge nutzte das Hindernis einer vor mir stehenden Gruppe, um mir auszuweichen und auf den Ausgang zuzustürzen. Zu dritt rannten wir hinter ihm her, rissen die Umstehenden fast um und waren kurz darauf im Freien. Aber die Dunkelheit hatte den Jungen sofort verschluckt. Der massige Helmut hatte nur kurz gesehen, wie sich seine Gestalt verflüchtigte.
«Verflucht», zischte Populescu. Unser Atem bildete in der nächtlichen Kälte weiße Wolken.
«Und jetzt?»
«Zyprian wohnt weit weg von hier, in der Vorstadt Wieden», antwortete er. «Vor Sonnenaufgang wird er nicht zu Hause sein. Er sucht wahrscheinlich einen Ort, wo er sich verstecken kann. Ich weiß, dass er häufig ein Lokal hier in der Nähe frequentiert, dort verdingt er sich manchmal als Strizzi. Aber er hat keine Ahnung, dass ich es weiß, es hat mir eine seiner Schnepfen gesagt. Pennal, verdammt nochmal, worauf wartest du? Setz endlich den Karren in Gang!»
Dieses Etablissement hatte ein gänzlich anderes Aussehen. Wir befanden uns auf dem noblen Neuen Markt. Mitten auf dem Platz zeichnete sich im Halbdunkel das Monument zu Ehren Josephs I., des Siegers von Landau, ab. Ein großer, luxuriöser Ballsaal warf aus dem ersten und zweiten Stockwerk Licht auf die Straße. Neben dem Eingang war ein lebensgroßer Türke mit Turban auf die Hauswand gemalt, der eine Tasse dampfenden Kaffees in der Hand hielt und zum Eintreten einlud –
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