Veritas
gegenüber den Zielen seines Großvaters entpuppt, wie man annahm. Man munkelt, dass er sogar einen formellen Verzicht auf den französischen Thron erwägt, um den Krieg zu beenden. Nun fehlt nur noch der letzte Stein im Mosaik: Ludwig XIV. eines Erben zu berauben, der ihren Plan, Frankreich zu schwächen, durchkreuzen könnte.»
«Wie könnte der Grand Dauphin ihr Vorhaben wirklich gefährden?», wunderte ich mich. «Aus den Gazetten geht eindeutig hervor, dass er kein so starker Charakter ist wie sein Vater.»
«Der Schein trügt, wie bei seiner Mutter, der verstorbenen Königin Maria Theresia von Habsburg, Gott hab sie selig. Er ist kein Mann der großen Worte und mischt sich bewusst nicht in politische und militärische Angelegenheiten ein. Doch nicht, weil es ihm an Erfahrung mangelt, sondern wegen seines großen Respekts vor Ihrer Majestät. Frankreich und ganz Europa würden einen ungeheuren Verlust erleiden, wenn der Grand Dauphin stürbe, denn sollte er jemals König werden, dann wird für sein eigenes und für andere Völker ein Goldenes Zeitalter anbrechen. Im Gegensatz zu seinem Vater nämlich», und hier betonte der Abbé seine Worte, «würde der Ehrgeiz ihn zu keiner Neuerung bewegen, die den öffentlichen Frieden gefährden könnte, da er ein wahrhaft gerechter, besonnener und redlicher Herrscher ist und überaus barmherzig gegenüber den Armen.»
«Und warum sollte ein so friedliebender König die Seemächte gegen sich aufbringen?»
«Die Macht Hollands und Englands gründet auf dem weltweiten Handel, welcher seine üppigsten Einkünfte just mit dem Krieg erzielt.»
«Ich dachte, der Krieg sei schädlich für die Geschäfte.»
«Für die kleinen durchaus. Die großen Transaktionen aber ziehen Gewinn aus der Schwächung der Nationen. Gott der Herr hat dem Menschen zum Leben die fruchtbringende Erde geschenkt. Doch wenn die Felder durch Plünderung, Brände und Kriegsverwüstungen unfruchtbar werden, ist das Volk Spekulanten und Wucherern ausgeliefert, die sich fünfzigmal mehr für die Waren bezahlen lassen, als diese wert sind! Die Geschicklichkeit ihrer Hände nützt den Bauern nichts mehr, wenn sie überleben wollen, sie müssen Geld haben, viel Geld, um zu einem hohen Preis das zu kaufen, was sie in Friedenszeiten mühelos selbst erzeugten. Ohne Geld geht gar nichts mehr, nicht einmal im entlegensten Dorf. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Leute sich an Kriegen unermesslich bereichert haben. Nimm den Dreißigjährigen Krieg, der vor weniger als einem Jahrhundert ausbrach. Die Wucherer von damals sind die Mächtigen von heute. Und wenn Könige bei ihnen Schulden machen mussten, haben diese Harpyien sogar noch einen Adelstitel als Belohnung empfangen.»
Vom verschlagenen Kastraten zum greisen Moralisten – wie einen der Lauf der Zeit verändern kann!, dachte ich, während Atto sprach. Jetzt ereiferte sich der Abbé sogar noch gegen die Aristokratie. Seine Darlegungen unterschieden sich sehr von denen, die ich vor achtundzwanzig Jahren von ihm gehört hatte; fast schienen sie die Reden meines seligen Schwiegervaters zu sein, der Jansenist gewesen war.
«Mit einem König wie dem Grand Dauphin», fuhr Melani fort, «würde Frankreich der Arroganz und Zerstörung endlich entrinnen; doch England und Holland wollen, dass genau das Gegenteil geschieht. Frankreich soll immer weiter degenerieren, der Hof muss dem Volk verhasst sein. Es ist den Feinden Frankreichs ärgerlich, dass der Allerchristlichste König erwachsene Söhne und Enkel hat; ideal wäre es, wenn es keinen Erben gäbe, oder nur einen Säugling, was gleichbedeutend wäre. Denn heute wäre es nicht mehr so wie damals, als der Allerchristlichste König im zarten Alter von vier Jahren den Thron bestieg: Seinerzeit sorgten die Königinmutter Anna von Österreich und der Premierminister Kardinal Richelieu, später dann Kardinal Mazarin dafür, das Land vor der Einmischung anderer Potentaten zu schützen. Jetzt gibt es keine Königin mehr und auch keinen Premierminister. Ludwig XIV. hat alle Macht in seinen Händen konzentriert. Stirbt er, würde eine stellvertretende Regentschaft das Land in ein führerloses Gebilde verwandeln, das dem erstbesten Intriganten ausgeliefert ist, vielleicht sogar jemandem, der aus England oder Holland kommt, um Frankreich zu ruinieren.» Doch es gebe noch mehr Probleme, fuhr Atto fort: «Schon seit Februar munkelt man, dass Joseph I. sich mit dem Gedanken trägt, Frankreich eine Teilung Spaniens
Weitere Kostenlose Bücher