Veritas
fort. Aber auch auf Marsili fällt beträchtlicher Ruhm. Bei der Kaiserlichen Armee gilt er nun als der größte Experte für Festungen und Belagerungen. Er kennt die Geheimnisse aller militärischen Schulen, seien es französische, deutsche oder italienische. Sogar die Sympathie der Truppe, die von ihm doch so streng behandelt wurde, hat er sich erworben, und seine Ranggleichen billigen ihm Loyalität und Selbstlosigkeit zu. Denn die Unehrlichkeit ist, wie die Ignoranz, ein Unrecht an der Würde des Krieges.
Doch im Hintergrund schäumt der Markgraf von Baden vor Wut. Marsili hat seine Unzulänglichkeiten entlarvt, indem er sich direkt an den Deutschrömischen König wandte. Dieser Italiener hat ihn nicht nur bloßgestellt, er ist auch unerträglich gebildet, ehrlich und tugendhaft. Was will er eigentlich noch alles erreichen?
Bald findet der Markgraf eine Möglichkeit zur Rache. Im Dezember desselben Jahres 1702 bedrohen die Franzosen die österreichische Festungsstadt Breisach am Rhein, die von größter Bedeutung für die Kontrolle des Breisgaus ist. Prinz Eugen befiehlt Marsili, nach Breisach zu gehen, um dort einen anderen Italiener, den Marschall Dell’Arco, zu unterstützen, falls dieser (eine sonderbare, doppelbödige Begründung) krank werden sollte. Der Markgraf von Baden weiß genau, dass Marsili und Dell’Arco zerstritten sind und daher zusammen nur wenig ausrichten können.
Die französischen Belagerer zählen vierundzwanzigtausend Mann. Die Garnison Breisach hingegen verfügt über knapp dreitausendfünfhundert Männer. So wird es Marsili berichtet, in Wahrheit sind es noch weniger. Ihn erwarten schlechtbewaffnete Soldaten und funktionsuntüchtige Kanonen, es gibt keine Pioniere und Minenleger (sie sind unverzichtbar für die Verteidigung einer Festung), und im Festungsgraben fließt kein Tropfen Wasser, um die Belagerer fernzuhalten. Sofort schreibt er an den Markgraf von Baden, die Situation sei aussichtslos, doch er erhält keine Antwort. Also macht er sich an die Arbeit, um die Bollwerke zu verstärken. Sogleich beginnen die Streitereien mit Dell’Arco, und Marsili wird für sechs Monate inhaftiert. Das Geld geht aus, die Truppen bekommen keinen Sold mehr und beklagen sich. Er versucht, in der nahen Festungsstadt Freiburg Geld zu leihen, was nicht gelingt. Also lässt er im Feld Bleimünzen prägen und an die Soldaten austeilen – die Gewähr übernimmt er mit seinem eigenen Vermögen.
«So hatte auch Melac gehandelt, der französische Kommandant Landaus!», mischte ich mich ein.
«So handelt jeder wahre Kommandant in einer solchen Situation, so muss er handeln», erwiderte Atto mit ernster Miene. «Das erklärt auch, warum Offiziere aus adeligen und wohlhabenden Familien stammen müssen: Der Adel vermag mehr als andere.»
Die zweite Augusthälfte 1703 ist gekommen. Heroisch leistet die kleine kaiserliche Garnison Widerstand, doch die Übermacht der Franzosen unter der Führung des Herzogs von Burgund ist erdrückend, vor allem dank der Fähigkeiten Marschall Vaubans, des großen Festungsbaumeisters des Sonnenkönigs.
«Derselbe, der Landau befestigt hat?»
«Just dieser. Auch Breisach hat er befestigt, als es in französischer Hand war, er kannte es wie seine Westentasche.»
Die Kaiserlichen Offiziere haben mittlerweile jede Hoffnung aufgegeben. Marsili aber ist unermüdlich: Er repariert mit eigenen Händen Teile der Artillerie, zeichnet Minen und Quergräben und versammelt alle, die noch kämpfen wollen, eng um sich. Dell’Arco beruft einen Kriegsrat ein; die Offiziere glauben nicht mehr an eine Unterstützung und beschließen einstimmig, sich zu ergeben. Nur Marsili sorgt sich noch um die Rettung der Ehre. Die Franzosen müssen seiner Garnison die militärische Ehre erweisen, donnert er vor den versammelten Offizieren, mit Trommelschlag und wehenden Fahnen. Alle sollen wissen, dass Breisach ehrenvoll verloren wurde. Als die Kaiserlichen Truppen am 8. September 1703 erschöpft und blutbefleckt, doch hocherhobenen Hauptes aus der Festung ziehen, trauen die Franzosen ihren Augen nicht: Hat dieses Grüppchen zerlumpter Gestalten sie wirklich so lange hier festgehalten? Jemand flüstert den Siegern zu, die Seele dieser Besessenen sei er gewesen, dieser Marsili, der ebenso übel zugerichtet und todeswund ist wie die anderen, in dessen geröteten Augen man aber den Zorn über die Niederlage liest. Es ist offensichtlich, dass er weiter und weiter gekämpft hätte, wenn er nur die
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