Veritas
starb früh (man vermutete sogar, sie habe ihn vergiftet). Das Knäblein wuchs unter dem Einfluss der älteren Brüder und einer Schar anderer Adelssprösslinge auf, allesamt liederlich, arrogant und lasterhaft, ohne Führung, die sie zu Ehrfurcht und Anstand erzog. Diese Jüngelchen glaubten, sie dürften alles, und tatsächlich wurde ihnen nichts verwehrt. Statt mit Erziehern und Präzeptoren hatten sie nur mit Lakaien und Hausdienern zu tun. Ein Studium gab es nicht, nur Divertissements, Spiele und Jungenstreiche. Sie kannten weder Grenzen noch Gottesfurcht.
«Wenn die Kindermädchen oder Hauslehrer es wagten, sie zu ermahnen, erhielten sie Gelächter, Beleidigungen und sogar Spucken zur Antwort», sagte Atto.
Nach den ersten unbekümmerten Flegeljahren kamen Eugen und die jungen Gauner in die Pubertät. Alles veränderte sich, die Streiche und Spiele nahmen jetzt eine andere Gestalt an.
«Die Jungen begannen, die Mädchen zu begehren, und die Mädchen hielten Ausschau nach angemessenen Verehrern», erklärte Abbé Melani.
Mit der gleichen Zügellosigkeit der Kinderjahre spielte man jetzt andere Spiele. Nicht mehr wegen eines weggenommenen Spielzeugs, eines Hiebes mit dem Holzschwert oder weil einem ein Bein gestellt wurde, erbebten nun die Körper, sondern aus ganz anderem Grunde. Die Münder, die bis jetzt gesungen und gerufen hatten, konnten nun küssen. Der Müßiggang wirkte als Brennstoff.
Und wenn die demütigen Hausmägde zuvor versucht hatten, die Kinder an körperlichem Kontakt zu hindern, damit sie einander nicht verletzten, wandten sie sich jetzt angesichts dieser Begegnungen ab, denn ihnen fehlten die geeigneten Worte und vor allem der Mut.
Es waren Begegnungen zu zweit, manchmal auch zu dritt oder viert. Immer gab es Publikum; Zuschauer und Akteure wechselten gerne die Rollen. Um der größeren Vielfalt willen waren die Paarungen frei und kannten keine Grenzen, weder bei der Wahl des Geschlechts, noch bei der Art der Zusammenkunft. Die Tage waren lang, die Kraft noch unbändig, Bedenken gab es keine.
«Die Langweile durch übermäßigen Reichtum führt manchmal auf wunderliche Wege, es hat keinen Zweck, sie dir im Einzelnen zu beschreiben. Das sind Dinge, die wir alle kennen. Vom Hörensagen, versteht sich», präzisierte Atto mit ernster Stimme.
Wenn es kühl war, wurde im Haus gespielt. Ein schwerer Vorhang genügte, ein dunkles Eckchen, ein Treppenabsatz, und man befriedigte sich zu zweit oder zu mehreren, wie es gerade kam, ohne große Umstände. Waren Frauen dabei, gut. Sonst behalf man sich ohne sie.
«Es ist zwecklos, w enn die Franzosen diese Sache ‹das italienische Laster› nennen», sagte Abbé Melani mit plötzlich erwachtem Eifer. «Das ist dieselbe Heuchelei, mit der die Italiener die Syphilis als ‹französische Krankheit› bezeichnen. Ein dummer Versuch, anderen die eigenen Schwächen anzukreiden. Sprechen wir es unumwunden aus: Ist Frankreich nicht das Vaterland dieses Lasters? Dort ist die Spezies der Frau-Männer entstanden, im Land des Vercingetorix. Haben die Franzosen nicht einen Hahn als Sinnbild für ihr Land? Nun gut, welches Tier, meine ich, könnte die aufgeblasene Arroganz der französisc hen Sodomiten besser veranschaulichen?»
Abbé Melani erhitzte sich gegen Frankreich und die Invertierten – er, naturalisierter Franzose und Invertierter durch die Kastration (doch ich wusste genau, dass eine Frau die Liebe seines ganzen Lebens gewesen war, ja dass er sie noch immer liebte). Atto schien im Alter plötzlich alles zu verabscheuen, was ihm ein Leben lang lieb und teuer gewesen war: die Regierung Ludwigs XIV, unter welcher er vermögend und einflussreich geworden war, und die Kastration, die ihm die Türen der Sangeskunst und der großen Welt geöffnet hatte (Atto war als Kind eines armen Glöckners geboren). Die größten Verleumder der Sodomiten, dachte ich, sind die Sodomiten selbst, welche deren innerstes Wesen besser kennen als jeder andere.
Nun begann er plötzlich, das Goldene Buch aller warmen Brüder Frankreichs herunterzubeten, als hätte er seit Jahren nur darauf gewartet.
«Von Heinrich III. von Valois weiß es jeder. Aber auch bei Ludwig XIII., dem Vater des Allerchristlichsten Königs, kennt man alle Einzelheiten. Gaston d’Orléans, der Onkel Ihrer Majestät, hatte das nämliche Laster. Und Monsieur, der Bruder Ihrer Majestät, sammelte mignons , also kleine Jungen.»
Ich war sprachlos. Großväter, Onkel, Brüder: Der Allerchristlichste
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