Veritas
darauf durch einen Flur ging, hatte sie das Gespräch zwischen einer kleinen Gruppe Türken (unmöglich zu sagen, wie viele es waren, vielleicht drei oder vier, auch der Derwisch war unter ihnen) und einer anderen, deutschsprachigen Person mitgehört. Einer der Anwesenden fungierte als Dolmetscher – aber warum hatte man Cloridia nicht dafür geholt? Die Sache schien von höchster Vertraulichkeit zu sein. Und tatsächlich, das war sie.
Das Ohr vorsichtig an die Tür gelegt, hatte sie vernommen, dass der Mensch deutscher Zunge niemand Geringeres war als der Kaiserliche Proto-Medicus, der Herr Doctor Mathias von Hertod.
«Der Kaiserliche Proto-Medicus!», rief ich aus. «Aber was tut er mit den Türken in Eugens Palais, obendrein vor Tagesanbruch?»
Dies sei nicht die erste Unterredung zwischen Ciezeber und dem Proto-Medicus Josephs I. gewesen, erklärte Cloridia. Die beiden und auch der Rest der Gruppe hätten Bezug auf frühere Gespräche genommen.
«Natürlich habe ich nicht alles verstehen können, doch die wichtigste Nachricht habe ich ganz deutlich gehört. Morgen Abend wird der Derwisch Joseph heilen.»
«Heilen?»
«Ja, er wird eine Behandlung bei ihm durchführen.»
«Dann ist die Besserung von Josephs Gesundheitszustand also auf den Derwisch zurückzuführen!», wunderte ich mich.
«Was er morgen tut, ist nur eine Wiederholung der bereits angewandten Therapie, und sie soll entscheidend sein. Von Hertod hat berichtet, dass der Zustand des Kaisers sich fortwährend bessert und dass die Behandlung morgen unter allen Umständen abgeschlossen werden muss. Wenn das Volk erfährt, dass die Ungläubigen an der Heilung des Kaisers mitwirken, könnte das großen Anstoß erregen.»
Der wichtigste Teil der Behandlung oblag Ciezeber. Bei der Unterredung in Eugens Palais war nämlich über die Instrumente des Derwischs gesprochen worden, über Einzelheiten der Therapie und über die geeignete Stunde, zu der er den Eingriff durchführen würde.
«Ob der Kaiserliche Proto-Medicus wohl begriffen hat, dass es eine Verschwörung gibt, die den Tod des Kaisers will?»
«Da bin ich sicher, bedenkt man die Uhrzeit, zu der sie sich besprochen haben, und ihre Heimlichtuerei. Der Proto-Medicus hat gesagt, so, wie die Dinge jetzt stehen, könne er nur noch auf Ciezeber vertrauen.»
«Das also war der Sinn der Rituale, die der Derwisch im Wald beim Schloss Ohne Namen durchgeführt hat», erkannte ich. «Ugonio hatte uns gesagt, sie dienten therapeutischen Zwecken, doch nie hätte ich mir vorgestellt, für wen sie bestimmt waren! Andererseits», wandte ich gleich darauf nachdenklich ein, «ist das wirklich eine aberwitzige Geschichte. Wir haben die Türken anfangs verdächtigt, den Kaiser vergiften zu wollen, und jetzt entdecken wir, dass sie ihn sogar heilen …»
«Das ist doch ganz einfach», entgegnete Cloridia. «Wenn der Kaiser stirbt, ersetzt ihn sein Bruder Karl auf dem Thron, und der Krieg endet. Es wirkt auf den ersten Blick widersinnig, doch wenn man es recht bedenkt, hat der Sultan ein Interesse daran, dass Joseph bei guter Gesundheit bleibt. Der Krieg würde weitergehen und das Reich und die anderen christlichen Mächte aufreiben. Ist das nicht eine ausgezeichnete Aussicht für die Osmanen?»
«Abbé Melani aber hat mir gesagt, dass Karl ein schwacher Charakter sei und Prinz Eugen ihn überzeugen werde, den Krieg fortzusetzen. Überdies denkt Joseph I. an ein Abkommen mit Frankreich, bei dem Spanien der französischen Krone überlassen werden soll und dem Bruder Karl nur Katalonien bleibt. Wenn es sich wirklich so verhält, ist es wahrscheinlicher, dass der Krieg unter Joseph endet als unter Karl.»
«Vielleicht wissen die Türken das nicht.»
«Das kann ich mir kaum vorstellen. Zumindest über die Friedensabsichten des Kaisers werden sie informiert sein.»
«Dann glauben sie vielleicht nicht an den Erfolg dieses Vorhabens. Man weiß ja, wie die Franzosen sind: Sie wollen alles, sonst gibt es Krieg», sagte Cloridia und deutete mit einer Handbewegung die Unerbittlichkeit Frankreichs an.
«Möglich», stimmte ich zu. «Doch wenn die Dinge so liegen, was wird dann aus Attos Theorie, dass Prinz Eugen gegen den Kaiser konspiriert, um Karl an seine Stelle zu setzen, weil dieser ein unschlüssiger Charakter ist und ihn, Prinz Eugen, den Krieg weiterführen lassen würde? Es wäre doch eigenartig, wenn sich ausgerechnet im Palais des Savoyers der Retter Josephs I. verbirgt!»
«Genau. Darum ist es auch denkbar,
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