Veritas
hätte Abbé Melani sich vorgestellt, dass die Interessen Frankreichs und Österreichs dieselben sein könnten. Auf dem Kriegsschauplatz schienen sie die beiden gegnerischen Feldherren zu sein. Stattdessen lagen der Kaiser und der Grand Dauphin gerade beide auf dem Opferaltar, während eine unbekannte Hand den Dolch über ihren Herzen hob … ihren Herzen?
«Da fällt mir etwas ein, Signor Atto», versetzte ich. «Was hattet Ihr eigentlich an jenem Abend in der Gasse hinter dem Kloster mit diesem Armenier zu schaffen?»
Melani zuckte zusammen.
«Was tust du jetzt, beschattest du mich?»
«Ich würde mich hüten, so etwas zu tun. Ich habe Euch auf dem Rückweg vom Gasthaus zufällig gehört. Der Armenier sprach von gewissen Leuten, die Euch für sehr viel Geld das Herz ihres Herren verkauft haben.»
«Hat er das wirklich gesagt? Ich weiß nicht …», stammelte Atto.
«Wort für Wort, ich entsinne mich genau. Er hat Euch einen kleinen Schrein ausgehändigt, und Ihr habt ihm ein Säckchen mit Münzen überreicht.»
«Oh, das war nichts Wichtiges, nur ein …»
«Nein, Signor Atto. Fangt nicht wieder mit der üblichen Leier an, wenn Ihr wollt, dass ich Euch vertraue. Sonst drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe, und dann zum Teufel mit Euch und dem Grand Dauphin.»
«In Ordnung, du hast recht», lenkte er ein, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.
Er ertastete mit den Händen die Lade einer Kommode, öffnete sie und nahm den kleinen Schrein heraus, den er von dem Armenier erhalten hatte.
«Hier ist er. Ich übergebe ihn dir, zum Beweis, dass dein Vertrauen in mich erwidert wird», sagte er, indem er mir das kleine Behältnis reichte.
Ich versuchte, es zu öffnen, doch vergebens. Es war verschlossen.
«Ich werde dir den Schlüssel vor meiner Abreise geben. Das schwöre ich.»
«Mit Euren Schwüren habe ich bereits Erfahrung», erwiderte ich in skeptischem Tonfall.
«Du kannst ihn doch aufmachen, wann immer du willst! Er ist leicht aufzubrechen. Ich bitte dich nur darum, es jetzt noch nicht zu tun. Ich vertraue dir nämlich», fügte er in feierlichem Ton hinzu, «wenn du mir vertraust.»
Ein ausgemachter Sophist, der Abbé Melani, wenn es um Vertrauen ging. Freilich musste ich anerkennen, dass ich diesmal tatsächlich etwas Konkretes in den Händen hielt.
«Einverstanden», sagte ich, «was wollt Ihr im Tausch gegen den Schrein?»
«Dass du mir bis zu dem Moment, in dem du ihn öffnest, keine Fragen mehr nach dem Armenier stellst.»
«Wann gedenkt Ihr denn abzureisen?», fragte ich, nachdem ich den Schrein in meine Hosentasche gesteckt hatte.
«Sobald ich erkannt habe, wer der Hintergrundmann ist.»
«Der Hintergrundmann?»
«Der Mann, der das Verbindungsglied zwischen den Mördern Ihrer Kaiserlichen Majestät und des Grand Dauphin und den Auftraggebern ist.»
«Ein Geheimagent?»
«Hier in Wien gibt es jemanden, der die Aktionen der Täter überwacht und leitet. Es kann nicht anders sein.»
Der Hintergrundmann: Diese Rolle kannte Atto Melani nur allzu gut! Hatte er sie nicht selbst oft genug in seinem Leben gespielt? Wer hatte denn vor elf Jahren die Verschwörung organisiert, die zum Ausbruch des Erbfolgekriegs geführt hatte? Atto Melani war weder der Auftraggeber (das war Frankreich), noch der Täter gewesen (ein einfacher Skribent). Aber er hatte jene teuflische Maschinerie ersonnen, mit der das Testament eines Königs gefälscht wurde, drei Kardinäle Verrat am Papst übten und einer dieser drei sogar seine Wahl zum Papst bewirkt hatte.
Jetzt sah ich den Abbé zum ersten Mal von einem neuen Atto Melani verdrängt. Ein Mann, der zweifellos viel jünger war als er und im Sold anderer Mächte stand – Hollands, Englands, oder wer weiß, in wessen Diensten noch –, hatte den Platz des alten Kastraten eingenommen und setzte nun ein tödliches Räderwerk gegen den Kaiser in Gang.
«Dieser Hintergrundmann», überlegte ich, «beobachtet vermutlich auch unsere Schritte. Womöglich steckt er hinter den Morden an Danilo, Hristo, Dragomir und vielleicht auch Kolomans Tod.»
«Wenn es so ist, sollten wir ihn lieber entlarven, bevor wir ihn im Rücken haben.»
Für dieses eine Mal hatten wir uns ein wenig Bequemlichkeit gegönnt. Abbé Melani hätte sich gewiss nicht zu Fuß oder auf unserem ärmlichen Rauchfangkehrerkarren zum Neugebäu begeben können. Also hatte Simonis den Pennal bestellt, der uns weit komfortabler und schneller dorthin kutschieren würde. Eine dunkle Vorahnung hatte
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