Veritas
es ist kein Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung, sie zu übergehen: Seit eh und je schon sterben Studenten scharenweise wegen ihrer Ausschweifungen, und man findet fast immer eine Todesanzeige.»
«Richtig», bestätigte Simonis nach einem erneuten Blick in die Gazette, «hier steht ja auch die Nachricht vom Tod dieses Carl Dement, der Student war.»
«Populescus Leiche haben die Kollegen eures Kutschers, dieses wie heißt er noch? … Penicek, beiseitegeschafft. Nun gut. Aber Koloman und die ersten beiden?»
«Ihr habt recht, verflucht», nickte ich, während sich mir der Mund vor Staunen öffnete und Simonis nachdenklich die Stirne runzelte. Kolomans Leiche hatte der Heurigenwirt direkt der Guardia übergeben; Danilo Danilowitsch war in der Nacht des 11. Aprils erstochen worden: Ein Toter auf den Bastionen konnte den Soldaten unmöglich entgehen. Hristo Hadji-Tanjov war am 13., also vor zwei Tagen, im Prater gestorben: Inzwischen war der Schnee völlig geschmolzen, und die Garden hatten ihn zweifellos gefunden.
«Aber wie ist das möglich?», fragte ich.
«Ganz einfach. Jemand hat dafür gesorgt, dass ihr Tod nicht in die Totenbeschauprotokolle eingetragen wurde.»
«Ich wüsste nicht, wie: Die Garden werden sofort den Amtsarzt der Stadt geholt haben, und …»
«Akkurat», kam er mir brüsk zuvor und gab mir damit zu verstehen, dass er nicht vor meinem Gehilfen sprechen wollte. «Ich muss kurz in mein Logis zurück, ich habe etwas vergessen.»
«Denkt Ihr, dass …?», beharrte ich absichtlich.
«Ich denke das, was du denkst», beschied er mich knapp. «Nun, begleitest du mich, oder muss ich alleine gehen?»
Als ich den Kleinen in Gesellschaft von Simonis zurückließ, damit die beiden ihr Frühstück beendeten, bemerkte ich, dass mein Geselle wieder den Sack um die Schulter trug, den ich schon am Vortage bei ihm gesehen hatte.
Atto und ich gingen zur Himmelpforte zurück. Er nahm das Gespräch wieder auf:
«Wer immer diese kleine Säuberung, nennen wir es einmal so, angeordnet hat, ist sehr mächtig. Auch wer sie durchgeführt hat, ist nicht unbedingt ein kleines Rad im Getriebe. Weißt du, was das bedeutet?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Es bedeutet, dass hinter dem Tod dieser Jungen etwas Großes steckt, etwas sehr Großes.»
«Warum habt Ihr dann jedes Mal gelacht, wenn ich versuchte, mit Euch über das Thema zu sprechen?», fragte ich mit mühsam zurückgehaltener Verbitterung.
«Ich habe es dir in den vergangenen Tagen schon mehrmals gesagt, doch das reicht offenbar nicht: Ich glaube weiterhin nicht, dass sie wegen ihrer Nachforschungen über den Goldenen Apfel gestorben sind, aber ich habe nie gesagt, dass ihre Tode nichts miteinander zu tun haben.»
«Ihr dürft die Tatsachen nicht verdrehen, Signor Atto. Ich erinnere mich sehr gut: Ihr habt mir gesagt, dass Hristo ein Untertan der Osmanen war und Dragomir ebenso, und Ihr habt mir zu verstehen gegeben, dass das mit ihrem Tod zu tun hätte.»
«Ich habe mir eine Ungenauigkeit zuschulden kommen lassen, das gebe ich zu. In Wahrheit haben sich die Bulgaren, seit die Hohe Pforte ihr Land besetzt hält, in das hohe, unwegsame Gebirge geflüchtet, wo sie praktisch keinen Kontakt mit den Eroberern haben. Und auch Rumänien gehört nicht ganz zum Osmanischen Reich.»
«Was? Und das fällt Euch erst jetzt ein?», brüllte ich.
«Schsch! Sprich leise, verflixt», brachte er mich zum Schweigen, unwillkürlich den Kopf nach rechts und links drehend, als könnten seine blinden Augen einen heimlichen Spion entdecken. «Ich brauchte dich, um mit der Pálffy anzubändeln. Du solltest dir nicht den Kopf über den Tod dieser Draufgänger zerbrechen, das hätte dich nur abgelenkt», erklärte der alte Kastrat mit schroffer Unverblümtheit.
Im Himmelpfortkloster angelangt, klopfte Atto mit dem Knauf seines Spazierstocks an die Tür seiner Gemächer.
Domenico öffnete und kehrte, vom Fieber der letzten Tage geschwächt und von der Lungensucht erbärmlich mitgenommen, unverzüglich in sein Bett zurück, um dort weiterzuhusten.
«Ich muss dich um Verzeihung bitten, Junge.» Plötzlich sprach Atto mit düsterer Stimme. Er nahm meinen Arm. «Ich dachte, dass diese Morde nur das Reich angehen, während ich ja hier bin, um Frankreich zu dienen. Wenn nur mein Brief Joseph I. erreicht hätte, wäre ich schneller als alle anderen gewesen. Stattdessen …» Und er machte eine Pause.
O ja, dachte ich, als er mich in seine Gemächer eintreten ließ, niemals
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