Veritas
dass Eugen nichts damit zu tun hat.»
Cloridia hatte recht. Ich hatte mich daran gewöhnt, Attos Thesen immer für richtig zu halten; doch diesmal hatte er einen Fehler gemacht, und zwar einen kapitalen! War nicht auch seine Überzeugung, die Türken seien Meuchelmörder im Dienst innereuropäischer Fehden, von den Tatsachen schon kläglich widerlegt worden?
Cloridia kehrte in das Palais zurück, nicht ohne mich zuvor mehrmals zu ermahnen, an ihrer statt gut auf den alten Abbé achtzugeben. Darauf klopfte Simonis wie vereinbart an meine Tür. Nun, da der Kaiser wieder gänzlich genesen würde, konnte ich mich erneut der wichtigsten Arbeit widmen, die Ihre Kaiserliche Majestät mir aufgetragen hatte: Der Ort Ohne Namen erwartete uns.
Ich saß mit dem Kleinen und Simonis im üblichen Gasthaus beim Frühstück. Bei uns war Abbé Melani. Er war es nicht gewohnt, sich so früh zu erheben, jetzt kauerte er auf seinem Stuhl und stocherte lustlos in einem üppigen Mahl aus Würsten mit Senf herum. In einem Kaffeehaus hätte er sicherlich ein Frühstück bekommen, das seinem Geschmack eher entsprach. Doch nach dem, was Dragomir Populescu zugestoßen war und was ich über die Armenier gehört hatte, versetzte mich der Gedanke, ein Kaffeehaus zu betreten, in eine gelinde Aufregung.
Schon wollte ich dem Abbé von den Neuigkeiten erzählen, die Cloridia mir überbracht hatte, doch ich hielt mich zurück. Atto hatte mir zu verstehen gegeben, dass er Simonis nicht recht traute. Also beschloss ich zu schweigen und berichtete ihm stattdessen von dem fruchtlosen Verhör Gaetano Orsinis.
«Würdest du den Wirt bitten, mir die neueste Gazette zu bringen?», sagte Atto zu meinem Gehilfen, als der Bericht beendet war.
«Dies hier ist kein Kaffeehaus, Herr Abbé, hier gibt es keine Gazetten. Doch ich habe zufällig das Wiennerische Diarium dabei, ganz frisch aus der Presse», antwortete Simonis. Der Grieche hatte beim Eintreten in das Gasthaus die soeben im Palais Zum Rothen Igel erworbene Zeitung auf unseren Tisch gelegt. «Es ist die Ausgabe der letzten drei Tage.»
Was mochte der blinde Abbé wohl mit einer deutschsprachigen Gazette anfangen, dachte ich, während ich beim Wirt Wasser für den Knaben bestellte.
«Gut. Ich nehme an, es ist eine Zeitung, welche die Todesanzeigen aus der Stadt abdruckt», sagte Melani.
«Freilich.»
«Könntest du sie mir bitte vorlesen?»
Der Grieche sah mich fragend an. Ich bedeutete ihm mit einem Wink, der Bitte zu entsprechen.
Simonis schlug die Gazette auf.
«Liste der Verstorbenen in und vor der Stadt», hub er etwas ungelenk an. «Den 11. April 1711 starb das Töchterchen …»
«Nein, bitte nur die männlichen und Erwachsenen.»
«Mal sehen … aha, hier: ‹Christof Lang, alt 65. Jahr, und Matthias Koch, alt 76. Jahr, beede im Armen-Hauß; Franz Zintel, alt 32. Jahr, Bierbrauer in Spittelberg; Georg Schraub, alt 48. Jahr, Schneider auff der Windmühl; Adam Kugler, alt 40. Jahr, Guardi-Gefreyter in Neubau; Michael Wißhoffer, alt 40. Jahr, Steinmetz in Liechtenthal.›»
«Wie man sieht, stopfen diese Wiener sich voll wie die Schweine», unterbrach Atto mit angewiderter Miene. «Nur diese beiden im Armenhospiz sind in fortgeschrittenerem Alter gestorben. Die anderen sind alle jung krepiert, und ich wette, sie haben sich überfressen.»
«Soll ich fortfahren?», fragte Simonis.
Atto nickte.
«Den 12. Dito sind gestorben Franz Johannes, alt 74. Jahr, Kaspar Wolff, alt 40. Jahr, und Johann Graßberger, alt 58. Jahr, beede im Kranken-Hauss. Den 13. April …»
Während Simonis eifrig die Liste der Toten abspulte, sah ich Atto zu meiner großen Verwunderung gespannt zuhören, den Hals vorgereckt wie ein Spürhund.
«… Carl Dement, Student, auff der Landstraßen, alt 30. Jahr; Andre Treberitz, alt 45. Jahr, abgedanckter Soldat, auff der Wyden; Philipp Brixner, alt 58. Jahr, bürgerlicher Fischkäuffler …»
«Sucht Ihr jemand Bestimmtes?», fragte ich.
«Schsch!», herrschte er mich an.
«Am 14. April», las Simonis weiter, «sind verstorben Melchior Plaschky, alt 54. Jahr, in der Leopoldstadt; Rietter Blasi, alt 38. Jahr, Schneider, auff der Münich-Pastey; Leopold Löffler, Guardi-Gefreyter, auff der Kärntner-Pastey; Lorentz Kienast, alt 36. Jahr, Färber in der Leopoldstadt …»
«Wie ich’s mir dachte. Sie sind nicht dabei», bemerkte Melani, als Simonis die Lektüre beendet hatte.
«Wer?», fragte ich.
«Kannst du dir das nicht denken? Eure ermordeten Freunde. Und
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