Veritas
neben dem Eingang zum Stall liegen gelassen. Plötzlich hörten wir ein Geräusch vom Stadion her, wo sich die Käfige befanden. Gleich darauf gerieten die Vögel in Aufruhr, und das Ballhaus füllte sich mit Zwitschern.
«Dann hat die Geschichte vom Tscherkessen also nichts damit zu tun. Aber warum hat der Aga ausgerechnet dieses Motto gewählt?», überlegte ich laut, während wir zu dritt auf den Ballspielplatz zugingen.
«Vielleicht wollte er Eugen damit eine Ehre erweisen», mutmaßte Simonis. «Vielleicht hat der Aga einfach sagen wollen: ‹Wir sind zur einzigen Sonne der Erde gekommen.›»
«Höchst unwahrscheinlich», entgegnete Atto. «Eugen ist die Sonne von gar nichts. Er ist der Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Truppen, mehr nicht. Soli soli soli bezieht sich eindeutig auf einen Herrscher.»
«Also auf den Kaiser», schloss ich. «Aber warum haben sie den Satz dann bei der Audienz vor Eugen ausgesprochen statt in Josephs Gegenwart?»
Atto schwieg nachdenklich.
«Vielleicht hat der Satz eine doppelte Bedeutung», bemerkte Simonis.
«Welche?»
«Mal sehen … statt ‹Zur einzigen Sonne der Erde› könnte man vielleicht übersetzen ‹Zur Sonne, die allein auf der Erde ist›.»
«Ist das nicht dasselbe?»
«Nein, diese zweite Formulierung würde bedeuten ‹Zur einsamen Sonne der Erde›, also zum Kaiser», erklärte Simonis.
«Und warum sollte er einsam sein?», wunderte ich mich.
Doch ich erhielt keine Antwort. Wir hatten das Ballhaus betreten. In der großen Arena mit ihren hohen, zum Himmel aufragenden Mauern ertönten die kreischenden Rufe der Vögel. Papageien und Sittiche schrien aus voller Kehle und füllten das ganze Rund mit ihrem Gezeter.
«Warum machen die Vögel einen derartigen Lärm, Junge?», fragte Abbé Melani mich erstaunt, wobei er sehr laut sprechen musste, um sich Gehör zu verschaffen.
Wir hörten erneut zwei, drei Schläge, wie von einem Hammer, der gegen Holzbretter schlug. Ich erklärte Atto, dass Frosch sich wahrscheinlich zwischen den Käfigen befand und eine Platte für die neue Stalltür zusammennagelte (obwohl es tatsächlich nicht ganz einsichtig war, warum er das inmitten der Vögel tat).
Der Lärm, wiewohl schon gellend, wurde durch den dröhnenden Widerhall einer neuen Folge von Hammerschlägen fast unerträglich.
«Verflucht, diese grässlichen Vögel sind unausstehlich», rief Atto und versuchte, sich die Ohren zuzuhalten.
Indem ich mein Trommelfell ebenfalls mit den Händen schützte, ging ich auf die kleinen Volieren zu und bemerkte bald, dass sie dicht an der Mauer standen, dass also dahinter niemand sein konnte, auch Frosch nicht, der dieses unangenehme Getöse erzeugte.
«Simonis!», rief ich meinen Gesellen, der in Gesellschaft Attos zurückgeblieben war.
«Seht nur, Herr Meister, seht!», echote er, um seinerseits meine Aufmerksamkeit zu erregen.
Es stand zur entgegengesetzten Seite des großen Platzes gewandt, auf den Eingang blickend, durch den man das Ballhaus betrat und den auch wir kurz zuvor durchschritten hatten.
Wir waren nicht mehr allein. Ein ungeheures, behaartes zweibeiniges Wesen, mindestens wie zwei Menschen so groß, zeigte uns seine speicheltriefenden Reißzähne und knurrte uns böse an, obgleich ich das wegen des Heidenlärms der Vögel nicht hören konnte. Dann ließ es sich auf seine Vorderbeine herab und trabte auf uns zu, bereit zum Angriff.
Mit Raubtieren kannte ich mich nicht gut aus, doch mein Instinkt sagte mir, dass das Wesen Hunger hatte. Starr vor Entsetzen beobachtete ich das sich nähernde Tier, hörte währenddessen mit einem letzten Fühler des Bewusstseins, wie der unsichtbare Schmied mit nochmaligen Hammerschlägen das Chaos unter den Vögeln erneut entfachte, dann gewahrte ich das abschließende Knirschen, und erst in diesem Moment begriff ich, dass es noch eine weitere Eingangstür zum Stadion gab, direkt gegenüber derjenigen, durch welche der Bär hereingekommen war, der uns jetzt angriff.
Immer noch gellten die Schreie der Papageien mir in den Ohren, als ich plötzlich erkannte, dass die Vogelkäfige, die Frosch an der Mauer übereinandergestapelt hatte, diese zweite Tür verborgen hatten, und dass sie es war, der ein unbekannter Tischler mit seinen Schlägen zusetzte.
Während ich unwillkürlich der Zielgeraden des Bären auswich, welcher eindeutig auf mich zusteuerte, hatte ich Melani und Simonis aus den Augen verloren. Sie wurden jetzt vom Fliegenden Schiff verdeckt.
«Herr Meister!», hörte
Weitere Kostenlose Bücher