Veritas
hinüber: Beim Anblick des Schiffes schienen auch seine tumben Augen sich zu weiten und mit Tränen zu füllen. Sogar Abbé Melani wandte, als er am Stadion vorbeischritt, unmerklich den Kopf in die Richtung des Fliegenden Schiffes, als übe dieses eine unsichtbare magnetische Anziehung auf ihn aus. Die Macht der Blindheit!, dachte ich. Wer nichts sieht, kann gleichwohl wahrnehmen, was für unsereins unsichtbar ist.
Eine einzige Veränderung nur gab es im Ballhaus: Im Hintergrund des großen rechteckigen Feldes waren die Vogelkäfige mit ihren lärmenden Bewohnern aufgetürmt. Auch Atto nahm das Stimmengewirr der kleinen Flieger wahr und fragte mich danach. Ich wiederum bat Frosch um eine Erklärung.
«Marder. Letzte Nocht haums ma a hoibs Dutznd Truthendln ookraglt.»
Der Wächter erklärte, er habe die Käfige in das Stadion verfrachtet, weil die Tür des Stalles defekt war, was die nächtlichen Jäger sogleich genutzt hätten. In dieser Nacht aber könnten die Vögel des Ortes Ohne Namen in Ruhe schlafen, denn die Türen im Stadion seien in gutem Zustand. Sobald die Stalltür repariert sei, würden die Käfige an ihren Platz zurückgebracht. Da das Wetter mild geworden könnten die Vögel vorerst im Freien schlafen.
Atto war beeindruckt, als er das Brüllen der Löwen und Panther hörte. Es war die Stunde der täglichen Mahlzeit. Ich beschrieb Atto Aussehen und Neigungen eines jeden dieser Karnivoren und schilderte ihm, wie sie die roten Fleischstücke, welche der Wächter ihnen hinwarf, packten und zerrissen. Er fragte mich, ob die Gefahr drohte, dass sie flöhen. Darauf erzählte ich ihm von meiner Begegnung mit Mustafa bei meinem ersten Besuch im Ort Ohne Namen.
«Blind, wie ich bin, würde der Löwe mich sofort erwischen. Aber dann würden ihm meine Knochen zwischen den Zähnen stecken bleiben!», sagte er und lachte gehässig.
Während der ersten Arbeitsstunde war alles glatt verlaufen. Abbé Melani hielt sich in vorsichtigem Abstand zu uns. Auf einem Schemel sitzend, war er sorgsam darauf bedacht, nicht mit Kohlestaub beschmutzt zu werden. Kaum drang ihm eine schwarze Staubwolke in die Nase, bat er unter Niesanfällen und Flüchen darum, in größerer Entfernung platziert zu werden, damit seine Kleider, wie üblich in Grün und Schwarz, nicht schmutzig würden. Erstaunlich, dachte ich, wie sehr dem Abbé an seiner äußeren Erscheinung gelegen war, obwohl er sich doch nicht im Spiegel erblicken konnte.
Wir hatten die Arbeit an der Stelle wieder aufgenommen, wo wir beim letzten Mal aufgehört hatten. Durch das Hauptportal betraten wir das Schloss, um uns den großen Sälen im ersten Stockwerk zu widmen. Da wir mit der Eingangshalle in der Mitte und den beiden seitlich sich anschließenden Sälen bereits fertig waren, gingen wir nun nach links und schritten durch die große Loggia zum Westturm. Doch die Tür zum Turm war verschlossen.
«Wir müssen uns von Frosch die Schlüssel geben lassen», sagte ich, «einstweilen versuchen wir es auf der gegenüberliegenden Seite.»
Während wir zur anderen Seite hinübergingen, meinte ich ein langes, trompetendes Dröhnen zu hören, das ich schon einmal vernommen hatte. Aus welcher Richtung es kam, war nicht auszumachen, ja, die Sinneswahrnehmung war so vage, dass ich die anderen nicht um eine Bestätigung zu bitten wagte. Wir durchquerten also wieder die drei Eingangssäle und traten dann ins Freie, in die Loggia auf der entgegengesetzten Seite, an die sich der Ostturm anschloss. Hier war die Tür offen.
Im Inneren des Turms empfing uns ein weiter Raum, der mich an eine große Kapelle gemahnte.
«Ich glaube auch, dass dieser Raum dem Gottesdienst vorbehalten gewesen wäre», bestätigte Simonis meine Bemerkung, «wenn es dem armen Maximilian gelungen wäre, ihn fertigzustellen.»
Schnell erledigten wir unsere Arbeit, dann gingen wir ins Freie und betraten das Schloss erneut durch den Ostturm, da man von hier aus in das Kellergeschoss gelangte. Nach Froschs Worten hatte Rudolf der Wahnsinnige hier seine alchemistischen Experimente durchgeführt. Wir fanden jedoch keinerlei Anzeichen von Öfen, Kolben oder anderem Teufelswerk. Wenn dies wirklich der Ort war, wo Rudolf seine Narrheiten zelebriert hatte, musste die Zeit gnädig alle Spuren verwischt haben. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf die Gespenster, von denen die Wiener (doch auch meine Landsleute, die Kaminkehrer) phantasierten.
In den Mittelteil des Schlosses führte eine lange Galerie mit
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