Veritas
vermutet: Eugen zählte nicht zu den Feinden des Kaisers, wie Atto meinte, sondern zu seinen wenigen Freunden, ja, vielleicht war er sogar sein einziger.
In diesem Augenblick weckte ein Geräusch von Schritten vor der Tür Atto aus seinem Halbschlaf. Simonis war von seiner Erkundung zurückgekehrt. Ich musste warten, bis ich Atto meine neueste Erkenntnis mitteilte, denn er hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er meinem Gehilfen nicht traute.
«Dem Gebrüll des Elefanten nach zu urteilen scheint mir, dass die Situation sich keineswegs gebessert hat», verkündete der Grieche.
Und so diskutierten wir, wie es zu dem vor wenigen Stunden überstandenen Abenteuer gekommen war.
Der Einbruch der Bestien in das Ballspielhaus hatte geschehen können, weil sie sich in dem engen Raum hinter dem Stadion aufgehalten hatten: einer Art Sackgasse, begrenzt von der Außenmauer des Stadions, dem Ostturm des Schlosses und einer weiteren Mauer. Dorthin waren die Tiere über einen unterirdischen Gang gelangt, von dem ich vermutete, dass er in ihre Gräben führte.
Doch von wo kam dann der Elefant her? Wie war es möglich, einen solchen Giganten zu verstecken? In den Gräben der anderen Tiere hatten wir keine Spur von ihm gesehen.
«Auch im Ostturm gab es eine Öffnung, Herr Meister», teilte mir Simonis mit.
Also rekonstruierte ich im Geiste die Ereignisse. Zweimal hatte ich die Gegenwart des Elefanten wahrgenommen: Zunächst hatte ich in der großen Loggia im oberen Stockwerk des Schlosses sein Trompeten gehört, das dem Ton einer Bucina ähnelte, dann, als wir uns im Westteil der Galerie im Untergeschoss des Gebäudes befanden. Offenbar hatte die riesige Bestie ihren Unterschlupf im Westturm, am äußeren Ende der Loggia, direkt über der Galerie. Es war dies der Turm, den wir nicht betreten konnten, weil Frosch uns keinen Schlüssel gegeben hatte. Von hier war das Tier durch die Loggia in den Eingangssaal gelangt und schließlich aus dem Schloss entwichen, um unter dem Bogen des maior domus hindurch auf die linke Seite zu wandern. Im östlichen Hof, dem des Haupteingangs, angekommen, hatte es defäkiert – von ihm mussten also jene außergewöhnlich großen Kotballen stammen, auf die wir gestoßen waren!
In Ermangelung anderer Fluchtwege war der Elefant dann in den Ostturm eingedrungen, dessen Eingang zum Hof, wie ich selbst hatte feststellen können, immer offen stand. Im Inneren des Turmes war er sofort nach rechts in den engen Gang abgebogen, der in die Sackgasse hinter dem Stadion führte, wo er dann auf die anderen Tiere traf, die ihre Gräben über den unterirdischen Ausgang verlassen hatten. An dieser Stelle muss der Andrang von wilden Tieren aller erdenklichen Rassen, sonderlich aber der angriffslustigen, der wilden Fleischfresser, einen ins Unerträgliche gesteigerten Tumult ausgelöst haben. Tiger, Löwen und Bären hatten sich Aug in Aug mit dem Elefanten gesehen, überdies eng aneinandergedrückt, in einem erstickenden Gemenge, von welchem sie in der Ruhe ihrer friedlichen Gefangenschaft keinerlei Vorstellung hatten. Die Panik hatte ihren Raubtiergeist vernebelt und ihnen verwehrt, auf die einzig mögliche Lösung zu kommen, nämlich einer nach dem anderen in den Ostturm zu schlüpfen, aus dem der Elefant hervorgekommen war, und von dort in den Haupthof zu gelangen. Der Elefant hatte die verworrene Situation gelöst, indem er die Tür zum Stadion aufbrach, und so war es zu jener Explosion von Tieren in der Arena gekommen, darin das Fliegende Schiff lag. Durch das Einstoßen der Tür hatten der Elefant und der Rest der Truppe die Vogelkäfige zerschmettert und so ein umfassendes Chaos ausgelöst.
Bis hierhin war alles klar – doch wer hatte die wilden Tiere aus ihren Gräben befreit und den Elefanten aus seinem Versteck im Westturm? Wo steckte Frosch? Warum hatte er uns die Existenz des Elefanten verschwiegen? Und wie zum Teufel war dieser Koloss eigentlich in einem der Türme des Neugebäus gelandet?
17. Stunde, Ende des Arbeitstages: Werkstätten und Kanzleien schließen. Handwerker, Sekretäre, Sprachlehrer, Priester, Handelsdiener, Lakaien und Kutscher speisen zu Abend (während man in Rom gerade die nachmittägliche Zwischenmahlzeit einnimmt).
Eine halbe Stunde später saßen wir in der Kalesche des Pennals, den wir auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt abgefangen hatten. Wir wollten unbedingt vermeiden, den Mauern des Ortes Ohne Namen zu nahe zu kommen. Sofort bot sich uns eine angenehme
Weitere Kostenlose Bücher