Veritas
Überraschung: Penicek hatte zum Schutz vor dem Regen eine kräftige Leinwand über sein Gefährt gebreitet. Er zeigte sich ein wenig erstaunt, uns hier an der Straße anzutreffen, mit dem todmüden Abbé ohne Perücke. Nachdem er uns hatte einsteigen lassen, fuhr er los, ohne viele Fragen zu stellen. Simonis hatte ihm den Mund gestopft, indem er ihn wie üblich sehr grob behandelte.
Während der Wagen sich in Bewegung setzte, fragte ich mich, wo Frosch wohl stecken mochte. Er würde Schwierigkeiten bekommen, wenn er seine Abwesenheit ausgerechnet in dem Moment, als die Tiere sich aus ihren Gefängnissen befreiten, nicht rechtfertigen konnte.
«Ich werde der Kaiserlichen Kammer melden müssen, was heute geschehen ist», sagte ich zu Simonis. «Sie werden morgen zu einer Ortsbesichtigung kommen, bei der wir zugegen sein müssen. Sicher stellen sie mir eine Menge Fragen, doch als Hofbefreiter Rauchfangkehrer kann ich den Behörden nicht verschweigen, was sich zugetragen hat.»
«Ich komme mit», sagte Atto eilig.
Ich ahnte, warum. Der Abbé hatte nicht die Absicht, Wien zu verlassen, ohne mehr über das Fliegende Schiff zu erfahren. Wenn er dem Allerchristlichsten König Genaueres darüber berichten konnte, würde seine Reise in die Kaiserstadt zumindest von einem Erfolg gekrönt werden. Ich protestierte nicht. Es war ohnehin aussichtslos, sich der Sturheit des Abbés zu widersetzen. Und niemand würde gegen einen blinden, hinfälligen Greis Verdacht hegen; schlicht gekleidet, ohne Schminke und Perücke, würde ich ihn als einen Verwandten vorstellen, auf den ich achtgeben müsse.
«Einverstanden, Signor Atto», antwortete ich nur.
Die Kutsche des Pennals kam auf der schlammigen Straße nur langsam voran. Als ein neues Gewitter losbrach, luden wir an der Straße einen Bauern auf.
Kaum war der Landmann eingestiegen, hub er unter wildem Gestikulieren in einem stark mundartlichen Idiom zu erklären an, dass er gerade einen Löwen habe herumlaufen sehen. Wir heuchelten natürlich ungläubiges Staunen: Das ist doch verrückt, ein Löwe in dieser Gegend? Darauf meinte der Mann, eines der wilden Tiere aus dem Neugebäu, welche eine Attraktion für die Besucher des Schlosses seien, müsse sich wohl der Überwachung durch den Tierwärter entzogen haben. Auf die Kunde, dass es im Neugebäu nicht nur eines, sondern viele wilde Tiere gebe, simulierten wir wieder große Verwunderung; worauf der Bauer erwiderte, in den umliegenden Dörfern kursiere sogar das Gerücht, dass es im Neugebäu einen Elefanten gebe.
Wir rissen die Augen auf und baten um Erklärungen. Also erzählte er uns, Kaiser Maximilian II., der Gründer des Neugebäus, habe einst aus Afrika einen Elefanten zum Geschenk erhalten. Maximilian hatte ihn auf dem Landwege über Spanien nach Wien kommen lassen und so den deutschen Völkern zum ersten Male Gelegenheit gegeben, die Spezies der Dickhäuter zu bewundern. Das Riesenvieh beeindruckte sie so sehr, dass jede der Herbergen, in denen das Tier auf seiner Reise verweilte, später den Namen «Gasthaus zum Elefanten» annahm. Mit der Einfalt des Mannes aus dem Volk erzählte der Bauer sodann, wie begeistert die Wiener auf die Ankunft des Elefanten reagiert hätten: In der Menge, die herbeilief, war eine junge Mutter, welcher vor Staunen die neugeborene Tochter aus den Armen fiel. Doch unter dem Geschrei der Menge fing der Elefant die Kleine mit dem Rüssel auf und legte sie in die Arme ihrer Erzeugerin zurück.
Maximilian ließ den Elefanten zunächst in ein zu diesem Behufe erbautes Serail in Ebersdorf nahe beim Ort Ohne Namen unterbringen. Dann aber, im Dezember 1553, starb das Tier, und ein Stuhl, aus dem Knochen seines linken Vorderbeins geschnitzt, war alles, was von ihm blieb. Alles? Nein, nicht alles, verbesserte sich der Bauer. Bevor er starb, hatte der Elefant sich nämlich als eine Elefantendame entpuppt, indem er (was bei den kolossalen Rüsseltieren angeblich äußerst selten geschieht) ein hübsches Paar kleiner Elefantenkinder gebar. Der Wächter der Elefantendame, Urgroßvater des jetzigen Tierhüters im Neugebäu, war überzeugt, dass der Tod der Elefantenkuh den übermäßigen Strapazen geschuldet sein müsse, denen sie durch das Zeremoniell des Kaiserhofes ausgesetzt war. Da er fürchtete, früher oder später werde jemand kommen und die beiden Elefantenkinder aus ihrer bequemen Unterkunft in Ebersdorf reißen, hatte er die Nachricht von ihrer Geburt geheim gehalten und sie in einem Stall in
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