Veritas
ist, während man das zweite nicht als Dativ Singular von sol , ‹Sonne›, sondern als gleichbedeutend mit dem ersten sol auffasst, also mit ‹Einsamer› oder ‹Mann, der allein ist› übersetzt.»
«Dann käme dabei heraus … ‹Zum einzigen Mann, der allein auf Erden ist›?»
«Genau.»
«‹Zum einzigen Mann, der allein auf Erden ist› … das klingt etwas seltsam», bemerkte ich.
«Aber es passt. Wenn diese Erklärung richtig ist, hatte euer Freund, bevor er starb, den wahren Sinn der Botschaft der Türken begriffen: ‹Wir kommen zum Goldenen Apfel, also Wien, zum einzigen Mann, der allein auf Erden ist.› Ein einsamer Mann, wie der König, wenn er zum Opfer des Schachmatts wird: Der König ist erledigt, der König ist allein.»
«Und warum sollte Joseph dem Schachmatt zum Opfer fallen?»
«Auch das müsstest du aus dem schließen können, was ich dir in den vergangenen Tagen erzählte», erwiderte Melani.
Ich schwieg, meine Gedanken ordnend.
«Ja, ich verstehe, was Ihr meint», sagte ich schließlich in die Stille hinein, die zwischen uns entstanden war. «Joseph ist allein, und er weiß es. Darum versucht er ja auch, mit sämtlichen alten Feinden Frieden zu schließen: im Westen mit Frankreich, im Osten mit den Osmanen und den ungarischen Rebellen, im Süden, in Italien, mit dem Papst, gegen den er vor drei Jahren sogar eine Armee geschickt hat. Die Verbündeten Ihrer Kaiserlichen Majestät sind die Holländer und Engländer, in Wirklichkeit aber sind sie seine schlimmsten Feinde. Sie verhandeln heimlich mit Frankreich und fürchten, dass Joseph, wenn er siegreich aus dem Krieg hervorgeht oder mit dem Sonnenkönig Frieden schließt, ihren Plan vereiteln könnte, den Platz der alten europäischen Mächte einzunehmen. In Spanien schließlich kämpft sein Bruder Karl gegen die Franzosen, doch er hasst Joseph seit seiner Kindheit. Auch Eugen, der Oberbefehlshaber seines Heeres, hasst ihn, weil Joseph in Landau seinen Ruhm geschmälert hat. Der Kaiser ist allein. So allein wie niemand sonst auf der Welt.»
«Und schwebt jetzt überdies in Lebensgefahr», ergänzte Atto.
«Aber warum haben die Türken sich Eugen ausgerechnet mit diesem Motto vorgestellt? Was wollten sie ihm sagen?»
«Das ist die einzige Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Noch nicht.»
So versanken wir in Schweigen und blickten nachdenklich in das Feuer, das ich von Zeit zu Zeit schürte, sorgsam bedacht, keine Funken auffliegen zu lassen, welche unsere zum Trocknen aufgehängten Kleider versengen könnten. Bald schlummerte Atto ein. Die Aufregungen der letzten Stunden waren zu viel für den über Achtzigjährigen gewesen; man musste sogar staunen, dass ihm nicht schon bei dem Einbruch der Tiere in das Stadion die Sinne geschwunden waren.
Ich dachte an seine vorgetäuschte Blindheit und lächelte. Abbé Melani war im Alter zu einem Geizhals geworden, den die Verwandten bedrängen. Während ich grübelte, spürte ich, wie die Müdigkeit mich übermannte. Im Halbschlaf dachte ich noch einmal an Hristo, an den Satz des Agas und an seine neue Bedeutung, die Atto mir soeben enthüllt hatte. Und in dem Moment, da die Vernunft dem Traume weicht, kam mir die Erleuchtung.
Jetzt wusste ich endlich, warum der Aga diesen Satz zu Eugen gesprochen hatte.
Es genügte, zwei und zwei zusammenzuzählen und zu berücksichtigen, was Cloridia an diesem Morgen über Ciezeber berichtet hatte.
Die osmanische Gesandtschaft war in höchster Eile aus Konstantinopel gekommen, in ihrem Gefolge den Derwisch, damit er das Leben Ihrer Kaiserlichen Majestät rette. Sie war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, just an dem Tag, da Joseph I. bettlägerig wurde. Wahrscheinlich hatte jemand, der auf Seiten des Kaisers stand, erfahren, dass man Joseph nach dem Leben trachtete, und hatte – warum nicht? – den Sultan um Hilfe gebeten. Denn im Osmanischen Reich verfügte man über ein medizinisches Wissen, von dem man in Europa nur träumen konnte. Und der Sultan, für den es nur von Vorteil sein konnte, wenn Joseph bei guter Gesundheit war (wie Cloridia erkannt hatte), hatte Ciezeber geschickt.
Wer hatte die Türken gerufen? Die Antwort war eindeutig: Niemand anderer als Eugen konnte es sein. Es war gewiss kein Zufall, dass die osmanische Ambassade ausgerechnet in seinem Palais empfangen worden war und dass dort auch jetzt die geheimen Treffen zwischen dem Derwisch und dem Kaiserlichen Medikus stattfanden.
Auch in diesem Punkt hatte Cloridia richtig
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