Veritas
Simonis befühlte seine Kleider, und obwohl sie noch ein wenig feucht waren, begann er sich unter Melanis hoffnungsfrohen Blicken anzuziehen.
«Aber erst muss man das Amt des Statthalters auszuüben verstehen, bevor man dasjenige des Hauptmanns bekleiden darf! Das habe ich ihnen in einem Brief geschrieben. Sie sollen sich umtun, wie ich es getan habe, sich ihr täglich Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen», tönte er sentenziös, wobei er ganz vergaß, dass seine Fortune mit einem kaum wünschenswerten Ereignis begonnen hatte: der Entmannung.
Zuletzt jedoch, schloss der Abbé, sei es fast unmöglich geworden, sich den unaufhörlichen Forderungen dieser Hyänen zu entziehen.
«Also habe ich, um mich nicht weiter aussaugen zu lassen, vortäuschen müssen, ich sei erblindet, könne Ihrer Majestät fürderhin nicht mehr dienen und lebte darob in beschränkten Verhältnissen. Und ich muss sagen, langsam habe ich Geschmack daran gefunden: Die Blindheit erspart mir einen Haufen Ärger, auch mit dem Großherzog.»
«Mit dem Großherzog?», staunte ich.
«Ja, er hat in Frankreich einige Mündel ganz ohne Talente, sie taugen weder zum Soldaten noch zum Höfling, und da sie keine sittliche Führung haben, handeln sie unbesonnen. Darum will er, dass ich, da ich mich am Orte befinde, ihnen ihre Ausgaben vorstrecke. Und wer garantiert mir, dass ich mein Geld jemals wiedersehe? Noch dazu, wo in ganz Europa Krieg herrscht und überall Banditen und Piraten umherziehen? Was habe ich denn mit den Mündeln des Großherzogs zu schaffen? Solche Kreaturen können meiner Meinung nach nur noch Mönch werden, unter der Bedingung, dass sie niemals ins Chorgestühl gehen, sondern immer bei Tische oder im Bett bleiben.»
Kurzum, wenn man Atto hörte, wollte ihn jeder ausnutzen.
«Und wie du weißt, hat mir der Notbehelf mit den Augen zu guter Letzt gestattet, ungestört nach Wien hereinzukommen.»
Ich wandte ein, dass auch sein Neffe Domenico an die Blindheit des alten Herrn Onkel zu glauben schien. Es sei denn, dachte ich im Stillen, er wäre wie sein Vorfahr ein großer Schauspieler. Und außerdem hatte mir der Abbé am gestrigen Tage viele Dinge gebeichtet, sogar dass der Brief, in dem Prinz Eugen seinen Kaiser verriet, eine von ihm selbst in Auftrag gegebene Fälschung war (doch das hätte er vor Simonis abgestritten). Warum also hatte er mir nicht enthüllt, dass er gar nicht blind war?
«Domenico weiß, dass ich sehen kann; wenig allerdings, was im Übrigen auch stimmt. Und in Anbetracht des Neides seiner Brüder hat er kein Interesse daran, mich zu verraten. Was deine zweite Frage betrifft, so offenbare ich niemals etwas, wenn ich nicht dazu gezwungen bin.»
Wohl wahr. Nach der schlechten Nachricht von den vermeintlichen Blattern des Grand Dauphin hatte Atto keine andere Wahl gehabt. Er musste mir sagen, dass Eugens Brief gefälscht war, denn wie hätte er sich sonst meine Unterstützung sichern können? Wenn er mir aber auch gebeichtet hätte, dass er nicht wirklich blind war, hätte er jede Glaubwürdigkeit bei mir verloren.
Unterdessen war Simonis bereit, zum Ort Ohne Namen aufzubrechen. Er schulterte das Säckchen, von dem er sich in letzter Zeit nicht mehr trennte, legte sich ein Wachstuch über den Kopf, das er im Keller gefunden hatte, und schlüpfte durch die Tür.
«Wir müssen unbedingt herausfinden, wie dieses verteufelte Schiff zu fliegen vermag!», wechselte Atto abrupt das Thema, kaum dass der Grieche verschwunden war. «Es ist die größte Erfindung aller Zeiten! Ein Heer, das ein solches Schiff besitzt, würde jeden Krieg gewinnen. Man könnte daraus Bomben abwerfen, die viel besser treffen als Kanonen. Man könnte die Aufstellung der feindlichen Bataillone ausspionieren, ihre Stärke, die Beschaffenheit des Bodens, alles! Ja, man wüsste sogar im Voraus, ob ein Sturm naht oder ob ein Fluss ausgetrocknet ist – alles, was für die Kriegsführung nützlich ist.»
Typisch, dass Abbé Melani an dem Fliegenden Schiff nur die möglichen militärischen Verwendungszwecke lobte! Er blieb der immergleiche Intrigant. Je mehr ihn etwas zu erschüttern vermochte, wie dieses geheimnisvolle Gerät, welches unser ganzes Wissen von der Welt in Frage stellte, umso mehr flüchtete er sich in den praktischen, harten Kern seines Gewerbes als Spion.
«Könnte ich doch nur dem Allerchristlichsten König davon erzählen …», seufzte er. «Das wäre eine triumphale Rückkehr! Alle würden sagen: Abbé Melani berät Ihre
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