Veritas
erkannt hatte. Wer nicht für Geld arbeitet, überlegte ich, erhält auf jeden Fall eine andere Art von Entschädigung. Welches war die ihre? Als Joseph sie aufgefordert hatte, auf ihre Tätigkeit als Heilerin mit Dinkel zu verzichten, war sie ihres Lebensunterhalts verlustig gegangen. Doch statt sich für ihre musikalischen Kompositionen bezahlen zu lassen, hatte sie Ihre Kaiserliche Majestät gebeten, im Kloster an der Himmelpfortgasse wohnen zu dürfen, etwas, was in Wirklichkeit eher einer Strafe denn einer Belohnung gleichkam.
Vor Jahren waren Camilla und ihr Ehemann Franz bis in die weit entfernte Hauptstadt Frankreichs gereist, um Atto Melani zu besuchen. Hatten sie den Schüler des Seigneur Luigi oder den Spion des Allerchristlichsten Königs kennenlernen wollen? War es denkbar, dass Camilla wirklich nichts mit den dunklen Geschäften zu tun hatte, in die Atto seit eh und je verstrickt war? Ich bemerkte, dass Cloridia mich traurig ansah: Sie wusste um meine Überlegungen und teilte sie, aber ihr Herz schwankte zwischen Argwohn und Zuneigung zur Chormeisterin.
Aus dem Mund des Soprans, der fülligen Maria Landini, die ich gestern noch der schändlichsten Taten für fähig gehalten hatte, sang die Braut des Heiligen Alexius nun süß von den Wundern der Liebe:
Basta sol che casto sia
Che diletta sempre amor … 1 *
Nein, das konnte nicht sein. Hinter Camillas Flunkereien musste sich etwas verbergen. Ich beobachtete die Chormeisterin, während sie dirigierte, und dachte nach.
… E fa’poi che eterna sia
Fiamma ascosa entro del cor . 2 **
Als ich den Sopran die Worte über die ewige Flamme der Leidenschaften singen hörte, kam mir der Gedanke, dass der Zweifel auch ein Feuer war, das quält und unaufhörlich lodert, wie die Liebe. Meine Bedenken gegenüber den Musikern hatten sich zerstreut, doch meine nagenden Zweifel an der Chormeisterin wurden mit jeder Stunde bedrückender. Die Himmelpforte und Camilla waren der Ausgangspunkt meines Aufenthalts in Wien gewesen. Und nun, nach zahlreichen blutigen Abenteuern, schien alles wieder in das Kloster mit seiner rätselhaften Meisterin zurückzuführen.
Der Tod der Studenten bot uns keine Spur mehr, die wir verfolgen konnten. Über die geheimnisvolle Erkrankung des Kaisers gab es hingegen noch viel zu viele offene Fragen. Und was verband Camilla mit Joseph dem Sieghaften? Welchen Lohn erwartete die Chormeisterin für den Dienst, den sie Ihrer Kaiserlichen Majestät leistete?
Ich wusste nicht, warum, doch ich fühlte, dass der nächste Tag ein wenig Licht in meinen verdunkelten Verstand bringen würde.
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1 * Es genügt allein, dass sie keusch sei / So erfreut Liebe immer …
2 ** … Und macht, dass sie ewig währt / Die heimliche Flamme im Herzen.
Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn
Donnerstag, den 16. April 1711
ACHTER TAG
5.30 Uhr: Frühmesse. Von nun an folgt unaufhörlich Glockengeläut, das den ganzen Tag lang Messen, Andachten und Prozessionen ankündigt. Die Beisln und Bierbeisln öffnen.
Auch am folgenden Tag war es nicht möglich gewesen, Abbé Metani aus dem Schlaf zu rütteln. Im Morgengrauen hatte ich mich wieder in seine Unterkunft begeben, und Domenico, der um den Gesundheitszustand seines Onkels fürchtete, wollte mich nicht einmal hereinlassen. Ich gab jedoch nicht auf, und nach einem kurzen Wortwechsel erlaubte er mir einzutreten.
Leider behielt Attos Neffe recht: Infolge der Strapazen des vergangenen Tages, sonderlich aber der seelischen Erschütterungen, befand sich der Abbé in einem nahezu katatonischen Zustand. Es gelang mir, ihn einige Minuten lang wach zu halten und zu ihm zu sprechen, doch zur Antwort erhielt ich nur einen benebelten Blick und Gestammel. Obwohl ich wusste, dass Domenico zuhörte, gab ich Atto den Kern meines letzten Gesprächs mit Cloridia wieder: Aller Wahrscheinlichkeit nach waren die Türken nicht mit bösen Absichten nach Wien gekommen, im Gegenteil: Sie wollten zur Heilung des Kaisers beitragen, weshalb seine Theorie falsch und sein Verdacht gegen Eugen unbegründet war. Doch alles vergebens. Nach einer Weile schloss Atto die Augen und drehte sich zur anderen Seite. Ungehalten hatte Domenico mich schließlich vor die Tür gesetzt.
Zurück in meiner Wohnung, fand ich, wie erwartet, eine Einberufung der Kaiserlichen Kammer vor. Am heutigen Nachmittag wurden mein Geselle und ich von der Obrigkeit am Ort Ohne Namen erwartet, um dort den Hergang des Geschehens zu Protokoll zu geben.
Gerade
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