Veritas
Bericht schließlich in ein kindliches Schluchzen über. Wir redeten ihm gut zu, und da wir fürchteten, er könne ohnmächtig werden, begleiteten wir ihn zurück ins Bürgerspital, wo wir ihn der liebevollen Obhut einer jungen Ordensschwester übergaben.
Wir folgten den Anweisungen, die Opalinski uns hinterlassen hatte, um das Wohnhaus bei den südlichen Bastionen zu finden. Wegen der Begegnung mit Frosch kamen wir über eine Stunde zu spät.
Kaum waren wir in die angegebene Straße eingebogen, hielt Simonis mich mit einer Handbewegung zurück.
«Kehren wir lieber um», sagte er.
«Warum?»
«Wir sollten versuchen, durch einen anderen Eingang in das Haus hineinzukommen. Man kann nie vorsichtig genug sein.»
«Aber Opalinski hat geschrieben, dass wir seinen Hinweisen nachgehen sollen.»
«Wir werden ihn finden, Herr Meister, vertraut mir.»
Es war auch so nicht schwierig, zur vereinbarten Stelle zu gelangen. In Wien sind viele Häuser miteinander verbunden. Wir schlüpften durch die Eingangstür eines Hauses in einer Seitenstraße und gelangten über mehrere Flure und Innenhöfe schnell ans Ziel.
«Die laare Wohnung? Obn in drittn Stock, duat wohnan die Zwitkowitz. Oiso, duat haums gwohnt», sagte eine alte Dame aus dem Erdgeschoss in mürrischem Ton, bevor sie die Tür rasch wieder schloss. «Des is di aanzige, wo s’scho an Beaumtn eiquatiat haum. Die aundan Wohnungan sand olle zua, und kana waaß wia laung. Ausseghaut haums olle. I kumm grod und raam meine letzten Sochn ausse.»
Die Stimme der Alten war voller Groll gegen die Kaiserlichen Beamten, die sämtliche Bewohner des Hauses zum Auszug gezwungen hatten. So wurden mir die Wirkungen des Quartierrechts, von dem Simonis berichtet hatte, anschaulich vorgeführt: Die Mieter hatten ihr Heim einem höfischen Parasiten überlassen müssen, der begonnen hatte, die Wohnungen illegal unterzuvermieten. Opalinski kassierte nun die Maklercourtage vom neuen Mieter.
Eilig stiegen wir die Treppen hinauf, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Wir erkannten die Wohnung sofort, denn die Tür stand offen. Wir gingen hinein, sie war halbleer. Viele Möbel und Gemälde waren erst vor kurzem fortgeschafft worden, man sah noch die Spuren am Boden und weiße Flecken an den Wänden, wo zuvor Bilder, Kruzifixe und Uhren gehangen haben mussten.
Mittlerweile kannte ich die Häuser der Wiener durch meine zahlreichen Inspektionen gut. Die Innenausstattung der Wohnungen und ihre Bauweise würden in meiner Heimatstadt für jeden Glück und Wohlstand bedeuten. Eine bescheidene Wiener Familie besitzt so viel wie fünf wohlhabende Familien in Rom. Die Mauern sind massiv und stark, die Fenster groß, die Dächer hoch, mit Ziegeln bedeckt und von mächtigen, solide gebauten Schornsteinen gekrönt. Die Wohnungen haben meist ein Vorzimmer und eine gutausgestattete Küche. Die Eingangstür ist breit, auch jene, über deren Schwelle wir soeben getreten waren.
«Jan, bist du da?», rief Simonis.
Keine Antwort.
«Er wird inzwischen weggegangen sein», sagte ich.
Vom ersten Zimmer aus konnte man nach links oder rechts gehen. Wir wählten die rechte Seite und gelangten in die Küche. Wie in Wien üblich, gab es auch hier einen schönen Herd und eine große Vielfalt an Gerätschaften, die man in Rom nur in den reichsten, vorzüglich ausgestatteten Heimen findet. Im Erzherzogtum ob und unter der Enns ist das Geschirr immer von allerbester Qualität, und die Gabeln haben drei, ja sogar vier Zinken.
Die Familie Zwitkowitz hatte einige Küchenmöbel mitgenommen, doch nicht deren Inhalt: Kupferbesteck, metallene Kannen, Blechpfannen, Schüsseln aus Zink, Gläser jeder Art lagen auf dem Boden gestapelt oder übereinandergehäuft. Neben einem Satz Teller, der in einer Ecke darauf wartete, weggebracht zu werden, bemerkte ich einige rote Tropfen. Ich machte Simonis darauf aufmerksam.
«Blut», sagte er mit tonloser Stimme.
Eine große Anzahl an Lappen, Servietten und Tischtüchern aus feinem Stoff, mit schönen Stickereien verziert, ist in den Wiener Speiseschränken etwas durchaus Normales. Denn in den Küchen dieser Stadt fließen Öl und Fett in Strömen.
Auf einem Tisch bemerkte ich ein schönes Tischtuch mit passenden Mundtüchern, alle fein säuberlich eines über das andre gefaltet. Etwas fiel mir auf, als ich die Servietten zählte: Es waren drei, nicht sechs oder zwölf, wie gewöhnlich.
In Wien benutzen die Köchinnen besondere Bratspieße. Drei oder vier stecken sie mit Fleisch
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