Veritas
Hofkriegsrath Gundacker Ludwig Graf Althan reiste in diesen Tagen mit der Postkutsche nach den Niederlanden ab .
Der Graf Althan hatte Wien also schon verlassen. Umso eigenartiger war es, dass Prinz Eugen immer noch zögerte. Wer weiß, ob er am nächsten Tag wirklich abreisen würde, wie er angekündigt hatte.
Das waren alle Nachrichten aus Wien. Ich durchsuchte das Blatt noch einmal, denn da war etwas, was mich störte, oder besser: was mir fehlte. Fehlte? Natürlich! Die Nachricht von dem Augustinermönch, der wegen Mordes und Vergewaltigung arretiert worden war! Die italienische Zeitung sagte nichts darüber.
«Cloridia, das Wiennerische Diarium ! Wo ist das Wiennerische Diarium? », rief ich, vom Sessel aufspringend.
«Hier, hier ist es doch!» Meine Gemahlin zeigte auf das Tischchen neben mir, wo sie es immer hinlegte, nachdem sie es, wie üblich, beim Rothen Igel für mich gekauft hatte.
Die Nachricht fand sich nicht einmal in der deutschsprachigen Zeitung.
Penicek hatte uns gestern gesagt, man spreche überall darüber. Er war ganz überrascht, dass wir nichts davon wussten. Doch in den Gazetten stand kein Wort. Ich ging zu Cloridia, die damit beschäftigt war, meine Arbeitskleidung auszubürsten, und fragte sie, ob sie etwas von der Sache gehört habe, aber sie schüttelte den Kopf und zeigte sich sogar erstaunt: Gewöhnlich erfuhr man im Palais des Durchlauchtigsten Prinzen jeden Klatsch im Voraus – und die Verhaftung eines Mönches ganz sicherlich! Auch von den schweren Verbrechen, die jener begangen haben sollte, hatte sie bis jetzt nichts gehört.
«Seltsam», bemerkte meine Frau, «von wem hast du diese Nachricht denn?»
«Von Penicek.»
«Aha.»
«Meinst du, er hat sie erfunden, vielleicht, um …?»
In diesem Augenblick fiel eine kleine Schachtel aus der Hose, die Cloridia in der Hand hielt. Es war der Schrein, den Atto mir übergeben hatte.
«Was ist das?», fragte Cloridia und hob ihn auf.
Ich erzählte ihr, dass der Schrein, Abbé Melanis Worten zufolge, die Erklärung seiner Begegnung mit dem Armenier enthalte; doch er habe mir das Versprechen abgenommen, ihn vor seiner Abreise aus Wien nicht zu öffnen.
«Und wenn er leer ist?», wandte sie ein.
Ich fühlte, wie ich erbleichte. Dann schüttelte ich ihn ein wenig. Im Inneren hörte man einen Gegenstand klappern. Ich atmete auf.
«Gut, etwas hat der Abbé hineingetan», gab sie zu. «Aber bist du wirklich sicher, dass das seine Begegnung mit dem Armenier erklärt? Vielleicht ist es nur ein Stein oder etwas in der Art.»
Ich fühlte mich wie auf glühenden Kohlen.
«Fast möchte ich ihn aufmachen», sagte ich.
«Dann würdest du dein Wort brechen.»
«Was soll ich denn tun?», jammerte ich.
«Ich bin fast sicher, dass dein Abbé diesmal die Wahrheit gesagt hat. Sobald dir ein Verdacht kommt, kannst du den Schrein ja immer noch öffnen.»
20. Stunde: Die Beisln und Bierbeisln schließen ihre Pforten.
Ich saß an meinem gewohnten Platz in der Kaiserlichen Kapelle, es war die Stunde der Proben zum Heiligen Alexius . An diesem Abend spielte das Orchester mit größerem Eifer als sonst, denn die Aufführung des Oratoriums stand nun kurz bevor.
Nach Ugonios Tod – Gott hab ihn selig – waren die Musiker wieder zu den unschuldigen Künstlern geworden, für die ich sie immer gehalten hatte. Dennoch stellte ich mir einige Fragen, während ich Camilla de’ Rossi von hinten betrachtete. Sie fuchtelte heftig mit den Armen, um den Geigen ein intensiveres Vibrato und den Kontrabässen ein freundlicheres Brummen zu entlocken.
Warum hatte sie über Anton de’ Rossi gelogen? Die Rossi sind nicht unbedingt alle miteinander verwandt, hatte sie mir gesagt. Doch der ehemalige Kammerdiener von Kardinal Collonitz war wirklich mit ihrem verstorbenen Ehemann Franz verwandt. Kardinal Collonitz: Das war jener Kardinal, der vor vielen Jahren das türkische Mädchen getauft hatte, das dann von den Schwestern der Himmelpforte abgelehnt worden war, wie Camilla selbst uns erzählt hatte. Franz und Anton de’ Rossi, Franz und Camilla, Anton de’ Rossi und Collonitz, doch auch Collonitz und die Himmelpforte und schließlich die Himmelpforte und Camilla: Welche Logik, wenn es denn eine gab, verbarg sich hinter diesem Gewirr?
Und warum hatte die Chormeisterin sich niemals für die Arbeit bezahlen lassen, die sie für den Kaiser verrichtet hatte? Das hatte mir Gaetano Orsini erzählt, dessen Unschuld, also auch Vertrauenswürdigkeit, ich erst jetzt
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