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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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geantwortet werden: Du hättest ungehorsam sein und dein Leben dafür geben können, dann hättest du ewiges Leben im Himmelreich erlangt.»
    Der Abbé sprach auch für sich selbst. Nur allzu gut entsann ich mich, dass der Gehorsam gegenüber seinem König auch ihn zum Verbrechen getrieben hatte.
    «Doch vergiss nie», fügte er, mit lauter Stimme deklamierend, hinzu: «Gott bedient sich eines jeden von uns, wie und wann er will; sogar dieses Penicek, obwohl er selbst vom Gegenteil überzeugt ist. Uns wird kein Haar gekrümmt, ohne dass der Allerhöchste es so will. Die Pläne seiner Liebe sind so groß, dass es uns Sterblichen nicht gegeben ist, sie zu verstehen.»
    Ich betrachtete Abbé Melani mit finsterer Miene. Jetzt, am Ende seines Lebens, mochte er gut predigen; doch wie oft hatte auch er mich in der Vergangenheit für seine schändlichen Umtriebe missbraucht und mich in Lebensgefahr gebracht?
    In diesem Augenblick hob Simonis, von Attos Worten überrascht, die Augen, und beider Blicke kreuzten sich. Und da verstand ich.
    Mein Herz sah all das, was die beiden Spione, der junge und der alte, sich in dieser Sekunde zu sagen hatten. Zum ersten und einzigen Mal sprachen sie ohne Maske miteinander. Ich sah die Illusionen, die heimliche Trauer, die Wiederauferstehungen, die Entschlossenheit zum Kampf, die Kaltblütigkeit und die Leidenschaft, schließlich das Wissen – dem vermeintlichen griechischen Studenten angeboren, im Kastraten hingegen gereift – um die göttliche Ordnung der Dinge. Beider Leben spiegelte sich in den Pupillen des anderen. Das alles währte nicht länger als einen Augenblick, doch er genügte mir, um Klarheit zu erlangen. Vor dreißig Jahren hätten sie gewiss nicht auf der gleichen Seite gestanden, sondern hätten sich bekämpft, der Spion des Sonnenkönigs und der treue Diener des Heiligen Römischen Reiches. Jetzt aber zogen sich beide zurück, angesichts des Absturzes der Welt in die Finsternis. Und lernten sich endlich kennen! Darum hatte Melani diese Worte in Simonis’ Gegenwart gesprochen.

    Gleich einem fauligen Aufstoßen aus dem Magen kehrte plötzlich das käfergleiche Bild des armen Opalinski vor mein geistiges Auge zurück.
    «Warum nur eine solche Grausamkeit?», fragte ich kopfschüttelnd. «Es war doch nicht mehr nötig! Penicek war gekommen, um uns zu töten, er wollte kein Verwirrspiel mehr treiben. Der tandur mit Dragomirs Scham hatte dazu gedient, uns in die Irre zu führen, aber warum nur musste er Janitzki die Spieße in die Augen und die Mundtücher in den Schlund bohren und ihn zu einem so entsetzlichen Tod verdammen?»
    «Es war die einzige Möglichkeit für den schmächtigen Pennal, über Opalinskis massigen Körper zu siegen», antwortete Simonis. «Seine Männer kamen nicht, weil sie unten auf uns warteten. Also hat er Opalinski allein angegriffen; die beiden haben gekämpft, und Penicek wurde verletzt. Er obsiegte, indem er ihm mit den Spießen das Augenlicht nahm. Er muss ein erfahrener Messerwerfer sein. Die Augenhöhlen gehören zu den wenigen Körperstellen, die bei allen Menschen weich sind – werden sie durchbohrt, gelangt man bis ins Hirn. Die Schmerzen sind unsäglich. Seine Pistole konnte er nicht benutzen, weil er keinen Lärm machen durfte. Er mag vielleicht Schutz auf allerhöchster Ebene genießen, doch ein Schuss wird von zu vielen Menschen gehört, und die Situation kann außer Kontrolle geraten. Aus dem gleichen Grund hat er seinem Opfer danach die Servietten in den Mund gestopft: Es sollte nicht schreien. Den Rest hat das Messer besorgt.»
    Die Gewandtheit, mit der mein Gehilfe den Hergang des Verbrechens beschrieb, bedrückte meine Seele noch stärker. Ich werde alt, dachte ich, doch wieder einmal war ich der Naivste in der Gruppe; und diesmal hatte ich nicht nur einen Spion vor mir, sondern zwei.
    «Verzeihung, mein Junge», mischte sich Atto ein. «Was hast du gesagt? Penicek war gekommen, euch zu töten …?»
    «Ja, Signor Atto, das habe ich Euch doch schon gesagt.»
    «Ja, ja, aber mir fällt erst jetzt ein, dass … Mein Gott! Warum habe ich nicht eher daran gedacht?»
    Allein, ich hatte keine Zeit mehr, Melani zu fragen, was er sagen wollte. Wir waren am Ort Ohne Namen angekommen und standen vor der kleinen Gruppe Garden, die uns schon erwartete.
    Kaum hatten wir einen Fuß auf den Boden gesetzt, führten sie uns alle drei zum Schloss. Es herrschte eine unwirkliche Atmosphäre: Kein einziges Tier lief mehr herum, alles war in Stille

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