Veritas
Signor Atto, es erschien mir wahrscheinlich, dass die Osmanen …»
«Es ist ganz und gar nicht wahrscheinlich! Wie kommst du nur auf die Idee, dass ein indischer Derwisch osmanischen Glaubens sich der Gesundheit eines Kaisers annimmt, der den Wahren Glauben vertritt? Ein weniger wurmstichiges Hirn als das deine würde einen solchen Unsinn sofort ausschließen! Ich wundere mich nur über Monna Cloridia. Du und sie, ihr habt wirklich gar nichts begriffen! Das ist das Todesurteil für den Kaiser!»
Es blieb keine Zeit mehr zum Debattieren. Eine halbe Stunde später saßen wir bereits in einer Mietkutsche, ähnlich derjenigen Peniceks, auf der Fahrt zum Ort Ohne Namen. Ich durfte mich nicht verspäten: Die Gendarmerie erwartete mich und meinen Gehilfen, damit ich die Ereignisse des gestrigen Tages zu Protokoll gab. Ich hätte mit unserem Kaminkehrerkarren zum Neugebäu fahren können, doch Atto wollte, wie er schon gestern verkündet hatte, uns um jeden Preis begleiten. Ich hatte dafür gesorgt, dass er schlichte Kleidung anlegte, und ihm Perücke, falsche Schönheitsflecke und Wangenrot verboten. Ich würde ihn als einen alten Verwandten ausgeben, für den ich vorübergehend sorgen musste. Er hatte sich nicht gewehrt.
Wir saßen also zu dritt in der Kutsche: Abbé Melani – in einem so naturbelassenen Zustand kaum wiederzuerkennen –, Simonis und ich. Unseren Kleinen hatte ich nicht mitnehmen wollen, ich hatte ihn in sicherer Obhut bei Cloridia im Himmelpfortkonvent gelassen. Der jetzt nicht mehr einfältige Blick meines Gehilfen war zum Horizont gerichtet. Ich ahnte, dass er keinerlei Absichten hatte zu sprechen, und forderte ihn, dem Ratschlag des Abbés folgend, auch nicht dazu auf. Atto saß mit Schmollmund und gerunzelten Brauen auf seinem Platz. Die Nachricht von der heimlichen Operation, welcher der Kaiser unterzogen werden sollte, hatte ihn in so düstere Stimmung versetzt, dass man meinen konnte, er stünde im Dienst Ihrer Kaiserlichen Majestät statt des Allerchristlichsten Königs von Frankreich.
Noch immer hatte ich den Geruch von Blut in der Nase. Die Bilder und Ereignisse der letzten Stunden peinigten mich. Der Pennal hatte eine tiefe Furche der Angst und Entfremdung von allem, was mich umgab, in meine Seele gegraben. Er war unter uns, doch keiner von uns gewesen. Er hatte das Aussehen eines Menschen und gehörte doch zu einer anderen Rasse: Er war ein Steuermann der neuen Ordnung, des Untergangs der Menschheit. Er hatte die akademischen Gebräuche ausgenutzt, sich mit Hilfe der Deposition unter uns geschmuggelt und war so zu Simonis’ Schatten geworden.
Wie falsch hatte ich Penicek eingeschätzt!, sagte ich mir zum zweiten Mal an diesem Tag. Jetzt wusste ich es: Will man einen Menschen beurteilen, schaue man ihm in die Augen! Blicken sie boshaft wie jene des Pennals, der aussah wie ein bebrilltes Frettchen, kann die Seele, die sich dahinter verbirgt, nichts Gutes enthalten. Nie sollte man sich von der Logik irreleiten lassen, dieser so ungenügenden menschlichen Kunst, die uns verführt, unsere Mitmenschen nach ihren Worten und unseren Einschätzungen zu beurteilen. Die Augen hingegen, der Spiegel der Seele, lügen nie!
Simonis, so dachte ich, hatte diesen bösen Blick nicht. Keine Sekunde lang hatte ich jenes befremdliche Flackern in seinen Augen gewahrt, das uns unerklärlicherweise zusammenzucken lässt. Seine Augen hatten etwas Reines, doch sie verboten mir, in seine Seele vorzudringen.
Plötzlich aber packte mich Widerwille: ein falscher, bebrillter Hüftlahmer gegen einen falschen Idioten – was für ein feines Pärchen! Die ganze Zeit war ich bemüht gewesen, mich nicht wieder von Abbé Melani übertölpeln zu lassen, und hatte daher von den Machenschaften dieser beiden nichts bemerkt. Einer log für einen guten, der andere für einen bösen Zweck, doch konnte ich wirklich sicher sein, dass Simonis, wenn seine Mission es erfordert hätte, mich und vielleicht sogar meinen kleinen Lehrjungen nicht dem geopfert hätte, was er für «die gerechte Sache» hielt? Man weiß ja, wie Spione wirklich sind, dachte ich erschauernd.
«Was hat es für einen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen?», flüsterte Atto mir ins Ohr, als hätte er an meinem Schweigen erkannt, worüber ich grübelte. «Jeder ist für seine Taten selbst verantwortlich. Am Tag des Jüngsten Gerichts werden wir allein vor Gott stehen. Keiner wird seine Verbrechen hinter dem Vorwand des Gehorsams verstecken können, denn ihm wird
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