Veritas
Geheimnisse der Chormeisterin zu ertragen! Ich runzelte die Stirn, aber Cloridia drückte mir sanft die Hände und schüttelte den Kopf.
«Ich weiß, woran du denkst, aber sorge dich nicht. Camilla hat mir alles erklärt.»
Mir blieb jedoch keine Zeit, mehr von ihr zu vernehmen. Von Erschöpfung übermannt, verlor ich in den Armen meiner Frau das Bewusstsein.
«Aber … das sind ja die Bilder unserer beiden Küken!», waren die ersten Worte, die ich aussprechen konnte.
Soeben war ich auf einem Lager neben dem Kaminfeuer erwacht. Als ich die Augen öffnete, hatte mich ein starker Schwindel erfasst, grausame Schmerzen peinigten meinen ganzen Körper. Cloridia hatte etwas aus einem kleinen Schrein gezogen und mir in die Hand gelegt. Ich betrachtete es. Es war ein Kettchen, an dem ein herzförmiger Anhänger in Goldfiligran hing. Er ließ sich öffnen. Darin erblickte ich die Miniaturen zweier anmutiger Mädchengesichter: meine Töchter als kleine Kinder! Woher kamen diese Porträts? Ich hatte sie nie zuvor gesehen. Oder befand ich mich schon wieder in einem Traum?
«Nein, Liebster. Es sind nicht die Küken. Nicht direkt», lächelte meine Gemahlin.
Und während die Gedanken sich mühsam ordneten und ich von einem wachsenden inneren Toben erschüttert wurde, erzählte mir Cloridia alles.
Als sie fertig war, wandte ich den Kopf, auf der Suche nach Abbé Melani: In eine Wolldecke gehüllt, saß er vor dem Kamin und plauderte angeregt mit Camilla. Unsere Blicke kreuzten sich. So wie er es sich vorgestellt hatte, hätte dies ein glücklicher Moment sein sollen. Doch es war uns nicht möglich, noch nicht.
Pfeilschnell galoppierte das Pferd vor dem kleinen Karren auf dem Heimweg nach Wien durch die Nacht. Bei jedem Hüpfen der Räder jammerte Abbé Melani. Wir mussten eilen, rasend schnell sein – es galt, die Hand zurückzuhalten, die den Kaiser meucheln würde. Doch wie kamen wir in die Hofburg hinein?
Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Von allem, was ich in den vergangenen Stunden erlebt hatte, war mir nur eines geblieben: ein Laut, der dröhnende Schrei der vierzigtausend Männer Kasims. Er war nicht mehr da, aber sein Donner währte in mir fort wie ein Fuß, der einen Abdruck hinterlässt, und manchmal wurde die Vibration sogar ohrenbetäubend. Es bereitete mir Mühe, Geräusche zu unterscheiden, ja, sogar meine eigene Stimme zu erkennen. Ich war nicht taub, aber betäubt.
In der Himmelpforte angekommen, hörten wir, noch bevor wir aus dem Wagen stiegen, das lärmende Rasseln einer Kutsche in der Straße. Ein Zweispänner hielt abrupt vor uns an. Er trug die Kaiserlichen Insignien. Zwei Pagen mit Fackeln stiegen aus.
«Öffnet, schnell!», schrien die beiden und klopften heftig an das Tor des Klosters.
«Sucht Ihr mich?», fragte Camilla, die bereits begriffen hatte, während sie auf das Tor zuging. «Ich bin die Chormeisterin.»
«Ihr seid das? Dann macht schnell!», sagte einer der beiden, indem er ihr einen Umschlag mit dem Kaiserlichen Siegel überreichte. Sie öffnete ihn sofort.
«Es ist ein Schreiben Ihrer Majestät», teilte uns Camilla mit, nachdem sie das Billett gelesen hatte, und ihr brach die Stimme vor Angst. «Er ruft mich zu sich. Sofort.»
Das war sie, die Antwort auf unser banges Hoffen: Ich würde Camilla in die Hofburg begleiten, und mit ihr würde ich geradewegs bis zum Kaiser gelangen. Wir ließen Cloridia und Atto im Kloster.
Vom Dunkel der Nacht umhüllt, welche über das Schicksal der Welt entschieden hatte, tauchte die Kaiserliche Residenz langsam vor uns auf. Wir klopften an das Tor eines Nebeneingangs. Trotz der frühen Stunde wurde uns sofort geöffnet. Ich ahnte, dass Camilla sehr häufig Gebrauch von diesem Zugang gemacht haben musste, denn der Diener, der uns öffnete, erhob keine Einwände und fragte nicht, wer wir seien. Er ließ uns in einem Zimmer warten, wo sich nach wenigen Minuten ein Lakai mit verschlafenem Gesicht einfand. Sofort umarmte er Camilla, und sie küssten sich brüderlich.
«Wie geht es ihm?», fragte die Chormeisterin.
Der andere antwortete mit einem ernsten Blick, ohne ein Wort zu sagen.
«Ich stelle dir Vinzenz Rossi vor, den Cousin meines verstorbenen Mannes», sagte Camilla zu mir. «Er wird uns jetzt bringen, was wir brauchen.»
Nach kurzer Zeit kehrte Vinzenz mit einem kleinen Pagengewand zurück, es hatte genau meine Größe. Ich legte es an, und wir begannen einen langen Weg durch Korridore, geleitet von dem Lakaien und dem
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