Veritas
klösterlichen Weinkeller, hatte meine Gattin mir alles erzählt, und alle Teile des Mosaiks waren endlich an ihrem Platz. Meine Frau hatte den Bericht mit ihrer türkischen Mutter begonnen, über die ich ihr bis jetzt nur schwer etwas hatte entlocken können. Sie war die Tochter eines Kompaniechirurgus der Janitscharen gewesen, erzählte Cloridia, und in Konstantinopel aufgewachsen. Von ihrem Vater hatte sie die Grundlagen einer uralten orientalischen Heilkunst gelernt, welche Krankheiten mit Dinkel kurierte. Doch bei einem Piratenüberfall war das eben erwachsene Mädchen geraubt und als Sklavin verkauft worden.
Dann folgte ein Teil der Erzählung, den ich gut kannte. Cloridias Mutter war von den Odescalchi gekauft worden, jener Familie von Geldverleihern, für die auch mein seliger Schwiegervater gearbeitet hatte. Aus dem Schoß der sechzehnjährigen Türkin wurde dann meine Frau geboren. Als Cloridia zwölf Jahre alt war, hatte man die Mutter erneut verkauft und Cloridia nach Holland verschleppt.
Hier begann das, was ich noch nicht wusste. Ich bat meine Gattin mit Gesten, mir diese Geschichte mit gutem Ausgang immer wieder zu erzählen und meinen trüben Gedanken damit eine vorübergehende Labsal zu schenken, eine Zuflucht vor den traurigen Ereignissen der vergangenen Tage.
Cloridia drückte meine Hand, ihr schönes Gesicht war mit Tränen bedeckt, und während sie auf die Ankunft des nächsten Heilers für mich wartete, willigte sie ein. Schon drei Medizi waren gekommen und hatten allesamt dekretiert, dass ich vollkommen gesund sei; wahrscheinlich (nicht «sicherlich») würde die Stimme wiederkehren, hatten sie im Brustton der Überzeugung gesagt.
Die Odescalchi, erzählte mir Cloridia zum wiederholten Male liebevoll, während sie meinen Kopf streichelte, hatten ihre Mutter an Collonitz verkauft, jenen Kardinal, der zu den Helden der Belagerung Wiens gehörte.
Von diesem hatte sie 1682 eine zweite Tochter bekommen. Collonitz hatte das Kind heimlich von seinem spanischen Statthalter Gerolamo Giudici aufziehen lassen und ihm auch die Mutter anvertraut. Giudici behielt beide als Dienstmädchen in seinem Haus, wo die Mutter ihre Tochter in der Heilkunst unterwies und perfekte Kenntnisse der türkischen ebenso wie der italienischen Sprache an sie weitergab. Als das Mädchen dreizehn Jahre zählte, 1695, konnte es sich bereits einer beachtlichen Ausbildung rühmen, vorzüglich in der Musik. Die junge Frau komponierte sogar, besonders schön aber war ihr Gesang. Als der blutjunge feurige Deutschrömische König sie singen hörte, verliebte er sich sofort in sie. Collonitz hatte sie darob in Sicherheit bringen wollen: Er taufte sie persönlich in der Kirche St. Ursula in der Johannesgasse und bestimmte sie durch Vermittlung von Giudici für das Kloster in der Himmelpfortgasse.
Kurz, dies war die Geschichte der von den Nonnen des Klosters abgelehnten jungen Türkin, die Camilla selbst uns vor einigen Tagen erzählt hatte.
Die Ordensschwestern hatten sich gegen den Eintritt der Osmanin gewehrt, da sie nur adelige Zöglinge aufnahmen, während die Neuangekommene eine Sklavin war. Aus Angst, in die Klausur gesteckt zu werden (ein anderes Kloster hätte sie womöglich aufgenommen), war das Mädchen unterdessen geflohen. Niemand wusste, wohin sie gegangen war und mit wem.
«Sie war mit ihrem Musiklehrer Franz de’ Rossi geflohen», hatte meine Frau mir erklärt.
Der Hofmusikus des Kaisers Joseph und Enkel von Luigi Rossi gab ihr den Namen Camilla, denn so hieß seine römische Cousine aus Trastevere, an die auch Cloridia sich erinnerte.
«Unsere Mutter aber hatte er Maria genannt, wie ich auch», sagte Cloridia lächelnd und trocknete meine stummen Tränen, die das Kissen netzten.
Nein, ich war nicht gerührt von dieser Geschichte, die sich mit geradezu unverschämter Lebensfülle über den widernatürlichen Tod des Kaisers, des Grand Dauphins, Simonis’ und seiner Freunde erhob. Ich weinte aus einem ganz anderen Grund: Die Zuflucht, die ich in Cloridias Erzählung suchte, fand ich nicht. Ihre Erleichterung, endlich ein Grab zu haben, an dem sie ihre Mutter beweinen konnte, linderte meine Verzweiflung nicht; ihre Freude, in Camilla die blutsverwandte Schwester entdeckt zu haben, war mir kein Trost für das vergossene Blut.
In meiner Trauer kam mir der Gedanke, dass Cloridia sich in den fast dreißig Jahren unserer Ehe niemals geirrt hatte: Jedes Mal, wenn ich zweifelnd im Dunkeln tappte, hatte sie schon den
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