Veritas
Erdscholle. Meine Augen waren weit geöffnet, aber ich lief blindlings, ich sah und sah nicht, hörte und hörte nicht.
Da holte mich unversehens eine ferne Melodie ein, umhüllte mich, verwirrte meine Fußsohlen, doch die Füße erkannten sie und zögerten in ihrem tollen Lauf, und schließlich tanzten sie zu ihrem zarten Gesang. Ohne innezuhalten, vollführten meine Sohlen ungehindert Kreise, und meine Arme folgten ihnen gefügig und zeichneten weite Figuren in die Luft zum Klang dieser (jetzt erkannte ich sie) Geige, der Geige. Und dann sah ich es. Ich war im Neugebäu. Der verzweifelte Schrei aus meiner Brust verwandelte sich nach und nach in den Gesang dieses vertrauten Motivs, das ich jetzt mit Namen nannte: eine portugiesische Melodie, Folia genannt, die Tollheit.
Meine nackten Füße liefen jetzt durch die Gärten des Ortes Ohne Namen, aber sie waren nicht mehr verwahrlost und ungepflegt: Anmutige blaugoldene Mosaike schmückten sie. Eine Fontäne klaren Wassers hob sich aus dem prächtigen Alabasterbrunnen in der Mitte und segnete alles ringsumher mit ihrer angenehmen Kühle. Auch auf meine Schultern fiel sie herab, um das geronnene Blut meiner Wunden zu waschen.
Und erst in diesem Moment sah ich den Ort Ohne Namen zum ersten Mal: Als hätten meine Wunden mir das Reich der Gerechten geöffnet, wurden meine Augen neu und übermenschlich, und wie durch eine jähe Explosion historischer Wahrheit zeigten sie mir das wirkliche, lebendige Bild der Schöpfung Maximilians, das herrliche Leben, für das sie erdacht und das ihr nie gewährt worden war: die funkelnden Dächer aus Gold; die Türme des Gartens, kapriziös aufragend wie türkische Minarette; üppige Beete und Hecken, dichtbesetzt mit Knospen und seltenen Pflanzen, mit Orangen- und Zitronenbäumen, mit exotischen Früchten und erlesenen Blumen; großzügige, hohe Brunnen, deren silberne Wasser über Betten aus hellem Marmor mit schönen Intarsien rauschten; die Fassade des Schlosses mit tausenderlei Gebälk, Skulpturen und Kapitellen geschmückt, alle mit feinen Arbeiten aus ziseliertem Gold verziert; die Umfriedungsmauern mit ihren stolzen Zinnen; und überall ein fieberhaftes Kommen und Gehen von Kutschen, Dienern, Arbeitern, Sekretären und Lakaien, alle in den Samtgewändern, die man vor zweihundert Jahren getragen; und im Hintergrund das wilde, aber gedämpfte Brummen der Raubtiere. Und dieses ganze gewaltige Meisterwerk der Erfindungsgabe, das Neugebäu, bot einen so harmonischen Anblick, dass seine kriegerischen Symbole (die Wachttürme, die Zinnen, die Löwen) eine Botschaft des Friedens zu verkünden schienen, wie auch sein Schöpfer, Maximilian der Mysteriöse, ein Mann des Friedens gewesen war.
Ich schluchzte bei dem Gedanken, dass mir diese zeitlose Vision nur ein einziges Mal vergönnt sein würde. Dann dachte ich an Rom zurück, an die Villa des Schiffs, die viel von ihrem vergangenen Leben bewahrt hatte und deren mit zahllosen Sinnsprüchen bedeckte Wände vom Glanz einer Epoche erzählten, die nicht wiederkehren würde. Wie eine in ihr Gegenteil verkehrte Medusa teilte diese Villa ihre Weisheit jedem mit, der seine Augen auch nur einen Augenblick lang auf jenen Denksprüchen ruhen ließ. Neugebäu hingegen, das Kind Ohne Namen, war zusammen mit dem Schoß, der es geboren hatte, aus der Welt gerissen worden, ohne sein Leben je gelebt zu haben. Seine Zeit hatte es nie gegeben; der Hass hatte es vorzeitig abgetrieben. Nur die Gärten hatten für kurze Zeit schüchtern mit dem Leben liebäugeln dürfen, doch dort, wo nicht die Natur, sondern der menschliche Geist wohnen durfte, genau dort hatte der Ort Ohne Namen vergeblich auf das Leben gewartet. Nichts konnte das Schloss Neugebäu dem Gast, dem neugierigen Besucher erzählen, außer: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt.»
Was also war mein ganzes Dasein bis jetzt gewesen? Welche Bedeutung hatten sie für mich, das verfrüht dahingeraffte Leben Josephs I. und Maximilians II., das unerfüllte Schicksal des Allerchristlichsten Königs und seiner geliebten Maria vor elf Jahren in der Villa des Schiffs und vor fast dreißig Jahren in der Herberge des Donzello in Rom, das Martyrium des Oberintendanten Fouquet und der Hass, der sein Schloss in Vaux-le-Vicomte geplündert hatte, diese gewaltige Niederlage aus Stein, ein Schloss, das nur eine einzige Nacht gelebt hatte, jene des 17. August 1661? Was waren sie, wenn nicht allesamt Wesen und Orte Ohne Namen, ohne Geschichte, weil man sie um die
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