Veritas
den die Schwestern der Himmelpforte in der Nähe besaßen, Unterschlupf zu suchen. Während der Fahrt hatte Cloridia, üble Machenschaften von Abbé Melani fürchtend, sich entschlossen, den Schrein aufzubrechen, den er mir anvertraut und den sie verwahrt hatte. Und sie hatte darin gefunden, was sie nie erwartet hätte: ihr eigenes Porträt als Kind, daneben dasjenige Camillas, die sich ebenfalls sofort erkannte. Da hatte die Chormeisterin ihr alles gebeichtet. Sie wusste es nämlich bereits, natürlich durch Atto.
Hier endete der Bericht meiner Frau. Nachdem ich sie gebeten hatte, mir die Geschichte viermal zu erzählen, entließ ich sie. Das Schweigen, in das ich zurückfiel, trocknete meine Tränen und ließ Raum für klarere Überlegungen, bei denen sich alles nach und nach in seinen Platz fügte. Die Anfänge der Bekanntschaft zwischen Atto und Camilla zum Beispiel.
Im September 1700 erzählte Camilla dem Abbé ihre eigene und die Geschichte ihrer Mutter. Da er um die Vergangenheit meiner Frau wusste, erkannte Atto sofort, dass die zukünftige Chormeisterin und Cloridia Töchter derselben Mutter sein mussten. Er vertraute Camilla seine Eingebung an, täuschte jedoch vor, nicht zu wissen, wo Cloridia zu finden sei … obwohl er soeben aus Rom zurückgekehrt war, wo er meiner Gemahlin zehn Tage lang fast täglich begegnet war.
Wie immer ging es Melani auch hier nur um seine eigenen Interessen. Er wollte nicht, dass Franz de’ Rossi und Camilla nach Rom gingen, was sie gewiss getan hätten, wenn sie erfahren hätten, dass Camillas Schwester dort lebte. Nach all den Intrigen, für die er mich benutzt hatte, wollte er verhindern, dass Cloridia der Schwester von seinen Missetaten berichtete. Außerdem war ihm viel mehr daran gelegen, dass Franz und Camilla nach Wien zurückkehrten. Dort konnten sie ihm überaus nützlich sein, da der Ausbruch des Krieges um die spanische Erbfolge unmittelbar bevorstand. Und es war ihm nicht schwergefallen, das Paar zu überzeugen, im Reich zu bleiben: Er hatte behauptet, Wien sei der wahre Mittelpunkt der italienischen Musik, während das Papsttum im Niedergang begriffen sei, Frankreich an den irrwitzigen Ausgaben für Krieg und Ballette kranke und das Goldene Zeitalter Kardinal Mazarins seit langem schon beendet sei.
Er würzte seine Darlegungen mit einer Halbwahrheit: Er sei mir und Cloridia etwas schuldig (das war die Wahrheit), weshalb er versuche, uns ausfindig zu machen (das war gelogen, er wusste sehr wohl, wo er uns finden würde, hatte er uns doch kurz zuvor in der Villa Spada schmählich im Stich gelassen). Schließlich versprach er, Camilla von den Fortschritten seiner Suche auf dem Laufenden zu halten. Damit hatte er einen Vorwand, Kontakt zu Camilla und Franz zu halten, falls er in Wien eine Gefälligkeit benötigte …
Und dies war ein weiterer der vielen Gründe, die Atto bewogen hatten, seine Schuld endlich zu begleichen und mir durch einen Wiener Notar eine Hinterlassenschaft überschreiben zu lassen: Er wollte endlich die Begegnung zwischen Camilla und Cloridia herbeiführen. Doch davor hatte er noch ein weiteres Hindernis eingeplant: Die Chormeisterin durfte sich meiner Frau erst zu erkennen geben, wenn er selbst aus Wien abgereist war. «Ich möchte keinen Dank», hatte er Camilla mit falscher Bescheidenheit gesagt. Der Grund war ein ganz anderer: Er fürchtete den Zorn meiner Frau, wenn sie entdecken würde, dass Atto ihr die Schwester gut elf Jahre lang vorenthalten hatte.
Der alte Abbé hatte gehofft, vor dieser Enthüllung aus Wien abreisen zu können. Doch die Ereignisse hatten es ihm verwehrt, sich davonzustehlen und uns sitzenzulassen, wie er es vor elf Jahren in Rom und davor noch, bei unserer ersten Begegnung vor achtundzwanzig Jahren, getan hatte. Zu anderen Zeiten wäre ich mit Anklagen, einem Haufen Fragen und schweren Vorwürfen herausgeplatzt, jetzt nicht. Selbst wenn ich gewollt hätte, ohne die Gabe der Stimme vermochte ich es nicht mehr. Und das war besser so: Cloridia, gerührt von den durchsichtigen Winkelzügen des alten Kastraten, hatte ihm sofort verziehen.
Und schließlich zerstreute Cloridias Erzählung den letzten Schatten, der noch auf Atto lastete. Der Satz, den ich jenen Armenier zu Atto hatte sprechen hören, nämlich dass die Diener des Hauses «das Herz ihres Herrn verkauft hatten», bedeutete einfach, dass Atto vermittels des Armeniers den Diebstahl des herzförmigen Anhängers für viel Gold in Auftrag gegeben hatte! Das
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