Veritas
Geschichte gebracht hatte, die ihnen rechtmäßig zustand? Waren sie nicht alle ein Vorspiel für das Neugebäu? Wovon hatten sie mir gesprochen? Warum waren sie mir entgegengekommen, warum hatten sie mein armseliges, dunkles Leben gesucht und es leidvoll geblendet mit ihrem traurigen Glanz?
Ich weiß nicht, wie Cloridia mich gefunden und ins Kloster zurückgebracht hatte. Reglos lag ich auf dem Bett. Ich sah meine Frau und den Kleinen, die sich über mich beugten. Bei ihnen saß Abbé Melani, zum Schatten seiner selbst geworden, in sich zusammengesunken am Kopfende meines Bettes auf dem Sessel aus grüner Brokatelle, und sogar sein Neffe war dabei. Ich irrte mit Blicken über ihre Gesichter, meine Pupillen verweilten auf ihren Mündern. Alle sprachen zu mir. Domenico wollte mich schütteln; Atto jammerte, gab sich die Schuld an allem und schlug vor, einen Arzt zu holen; Cloridia, zu Tode betrübt über mein Unglück, in dem sie unbedingt eine Art von Heldentum sehen wollte, flehte, ich möge ihr, wenn er schon nicht mehr von meinen Lippen kommen konnte, so doch wenigstens mit meinen Gesichtszügen einen Wink des Verständnisses für sie und unseren Kleinen geben.
Und abermals kehrte ich in meinen Erinnerungen zu der Zeit vor elf Jahren in Rom zurück, in jene glänzende Villa, welche die Form eines Schiffes hatte wie das Fliegende Schiff und verlassen war wie der Ort Ohne Namen. Und zum wer weiß wievielten Male dachte ich an Giovanni Henrico Albicastro, den wunderlichen holländischen Geiger, der, stets in Schwarz gekleidet, über den Zinnen der Villa zu schweben schien, während er eine portugiesische Weise spielte, die folia genannt wird, «Narrheit» eben. Er rezitierte Verse eines Poems mit dem Titel «Das Narrenschiff», durch die er mich das Leben gelehrt hatte. Niemals würde ich herausfinden, ob er und der unbekannte Steuermann des Fliegenden Schiffes ein und dieselbe Person waren, doch jetzt ging es um etwas ganz anderes: Es wurde Zeit, Albicastros Ermahnungen zu beherzigen.
Während ich in meinem Inneren wieder angefangen hatte, zu schreien, und dieser Schrei nie mehr enden sollte, hatten meine Lippen, jenen alten Mahnungen gehorchend, zu schweigen begonnen. Ich war stumm geworden. Meine Frau weinte, und ich hätte ihr gerne gesagt: Wie kann ich mit dir sprechen, wenn dieser Lärm in meinen Ohren tobt? Hörst du ihn nicht auch? Nur manchmal verwandelte sich der Schrei in den Gesang der Folia, und dann begann ich zu winseln, ich wollte Cloridia sagen, dass ich sie liebte, aber sofort setzte mein innerer Schrei wieder ein.
So wurde ich auf dem leidigen Krankenlager wieder zur Beute meiner Erinnyen. Ich litt an meinem Schweigen, in das jeder eintreten konnte wie an einen Ort verbürgter Gastfreundschaft. Heftig wünschte ich mir, es würde mich gleich einer Trauerhalle umgeben, und mit mir die ganze Menschheit.
Ach, könnte man doch den Nachgeborenen die Stimme dieser Epoche überliefern! So quälte ich mich in den schweißgetränkten Kissen. Aber würde dann nicht die äußere Wahrheit die innere widerlegen und das Ohr unserer Nachkommen weder die eine noch die andere mehr erkennen? Denn auf diese Weise macht die Zeit ihr eigenes Wesen unerkennbar und uns bereit, das größte Verbrechen, das je unter der Sonne und unter den Sternen begangen wurde, zu amnestieren.
Nur im Archiv Gottes ist dieses Wesen sicher bewahrt. Nein, nicht wegen eures Todes, meine Freunde – ihr alle, die ihr im Krieg und im Frieden gefallen seid, ihr Toten von gestern, heute und morgen –, sondern für das, was ihr erleben musstet, wird Gott euch an denen rächen, die es euch zugefügt haben. Zu Schatten wird Gott sie machen, zu jenen Schatten, die sie eigentlich sind, Schatten, die sich lügnerisch in das Aussehen realer Menschen kleideten. Er wird ihnen das Fleisch nehmen, darin sie ihre leeren Seelen verbergen. Nur dem Gedanken an ihre Dummheit, der Empfindung ihrer Bosheit, dem furchtbaren Rhythmus ihrer Nichtigkeit wird er einen Körper geben, und wie Marionetten wird er sie am Tag des Jüngsten Gerichts bewegen, um den Gerechten zu zeigen, was unter Seiner Hand zugrunde ging.
Ich hatte den langen Weg des Schweigens beschritten, in Erwartung des Tages, an dem, wie Albicastro mich gelehrt hatte, «der Bogen gespannt wird». Aber der holländische Geiger hatte mir vor elf Jahren auch verkündet: Nicht in dieser Welt wird der Bogen gespannt werden. Und Christus selbst hat uns belehrt: «Mein Reich ist nicht von dieser
Weitere Kostenlose Bücher