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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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oder, besser, was ich zu kennen glaubte: jene Geschichten nämlich, die ich gemeinsam mit ihm erlebt und deren Geheimnisse ich alle enthüllt zu haben meinte, doch in Wirklichkeit …

    Ansonsten verlief Cloridias und mein Leben mit dem alten Kastraten in geordneten Bahnen. Regelmäßig erhielten wir aus Rom die Briefe unserer Mädchen, die sich endlich mit wackeren jungen Männern von bescheidenem Stand (in Rom, der Hauptstadt des Wuchers, konnte es nicht anders sein), aber viel gutem Willen verlobt hatten.
    Doch vom ersten Tag an wurde unser Aufenthalt in Paris von den Scharmützeln zwischen Atto und seinen Verwandten getrübt. Domenico wurde, wie Abbé Melani mir schon angekündigt hatte, alsbald in die Toskana zurückgeschickt. Stattdessen kam nun häufig ein gewisser Champigny ins Haus, der ihm als Sekretär diente. Atto diktierte ihm alle Schreiben, die er den Verwandten in Italien sandte, damit sie weiterhin glaubten, er sei unrettbar erblindet. Domenico würde ihn nicht verraten: Er wusste, dass ihn eine stattliche Erbschaft als Belohnung erwartete.
    Es war dies ein fortwährendes Hin und Her, das dem trotzigen Geplänkel zwischen Kindern glich. Im Juni erinnerte der Abbé die Neffen vergeblich daran, dass sie ihm die kandierten Orangen noch nicht geschickt hatten – als wäre Paris nicht voll sizilianischer Konfiserien! Dann ging er dazu über, wegen eines Wäldchens in seinem Besitz zu klagen, welches aus Mangel an Pflege zugrunde zu gehen drohte. Im August schrieb er den Neffen endlich, dass er genau wisse, wie viel Geld der Familie Melani zufließe, denn als Domenico seinerzeit das Amt des Sekretärs der Consulta von Siena erhalten habe, habe man ihm aus Florenz eine Nachricht über all seine Bezüge und Ehrungen geschickt. Nachdem sie diesen Schlag eingesteckt hatten, versprachen die Neffen, um den Onkel versöhnlich zu stimmen, ihm einen Landsmann mit einer Hartwurst und einer Mortadella von bester Qualität zu schicken, besser als jene harte und übermäßig gepfefferte, die sie ihm kurz vor seiner Reise nach Wien untergejubelt hatten.
    Doch nicht nur Unerquickliches kam aus der heimatlichen Toskana. Gast in seinem eigenen Landhaus war in diesen Tagen Madame Konnetabel Maria Mancini, seine alte, angebetete Freundin, die vor elf Jahren in Rom vor meinen Augen eine Intrige mit Atto angezettelt und damit das Schicksal Europas gewendet hatte.
    Wenn die Briefe der Madame Konnetabel ankamen, verschwanden alle Schatten aus Attos Gesicht. Sogleich traf er Vorbereitungen, um sich nach Versailles zur Audienz bei Ihrer Majestät zu begeben, wo er um Erlaubnis bat, Maria in seiner Heimatstadt Pistoia zu besuchen.
    Diese Geschichte wiederholte sich jedes Jahr: Kaum brach die schöne Jahreszeit an, erschien Maria in Attos Villa in der Toskana. Auf diese Nachricht hin ließ der alte Kastrat die Kutsche anspannen und suchte eilig den König auf, um ihn zu bitten, nach Italien zurückkehren zu dürfen. Jedes Mal, wenn er eine Abfuhr erhielt, ärgerte er sich maßlos. Doch der Abbé versuchte es immer wieder, und trotz der schwülen Witterung reiste er oft zwischen Paris und Versailles hin und her, unermüdlich und ohne dass es ihm beschwerlich wurde, fast wie ein junger Mann – so viel Kraft fuhr ihm in die alten Glieder, wenn er nur an seine Madame Konnetabel dachte, die einzige Frau, die der alte Kastrat je geliebt hatte. Sie hatten sich seit fünfzig Jahren nicht gesehen.
    Auch der Großherzog hörte nicht auf, ihn mit Bitten wegen seiner Schutzbefohlenen zu belästigen. Im Herbst jenes Jahres erlitt Atto einen Sturz in seinem Zimmer, welches er fast den ganzen Winter über nicht verließ, obwohl er bei guter Gesundheit war. Die kandierten Orangen, die gute Mortadella und die Wurst, zu denen sich noch die Bitte um Pomade und Orangenblütenkonfekt gesellt hatte, waren immer noch nicht eingetroffen. Unterdessen schickte Atto Boten nach Pistoia, damit sie ihm vom Zustand seines Hauses und dem Aussehen des Großneffen berichteten, nicht zuletzt auch die ersehnten Leckereien mitbrächten (der Abbé war wirklich dickköpfig!) und den Neffen ankündigten, dass er selbst, so der Krieg im Frühling beendet wäre, nach Pistoia kommen und dort ein Jahr bleiben würde.
    Doch ein Jahr später, im März des Jahres 1712, war der Frieden immer noch nicht da, und so musste ich zu meiner Überraschung aus dem Mund des Abbés Worte bitterer Reue darüber hören, dass er vor zwölf Jahren die Wahl des Papstes Albani erwirkt hatte.

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