Veritas
Jetzt trauerte er seinem guten Freund nach, dem seligen Kardinal Buonvisi, und hatte sich sogar einige seiner Briefe an ihn in Pistoia kopieren lassen, damit sie der Nachwelt erhalten blieben.
«Wenn Buonvisi Papst geworden wäre», jammerte er, «wäre die Toskana nicht von den Alemannen unterdrückt worden, und der Frieden wäre schon vor Jahren geschlossen worden. Doch weil Gott die christliche Welt strafen wollte, rief er diesen großen Mann zwei Monate vor der Wahl des regierenden Pontifex zu sich, denn hätte Buonvisi noch gelebt, wäre gewiss er Papst geworden, nicht Albani, und ich hätte meinen Lebensabend vielleicht in Rom und nicht in Frankreich verbracht!»
Wie Palatino angekündigt hatte, hörte der Krieg nicht auf zu wüten, und die Völker verarmten. So würde es weitergehen, bis das zerstörte Europa einem von den Geschäftemachern beschlossenen Frieden ausgeliefert war. In ihrem Würgegriff endete schließlich auch der Abbé: Die Zahlungen seiner Ruhegelder, sowohl jene des Königs als auch jene des Hôtel de Ville, wurden ausgesetzt, und Atto musste an seine Ersparnisse, um die monatlichen tausend Franken für seine Miete bezahlen zu können.
Doch nicht alle besaßen diese Möglichkeit. Die Armut war so groß, dass auch Menschen, die ihm von Madame Konnetabel empfohlen worden waren, sich schließlich wie Betrüger verhielten, zum Beispiel ein gewisser Monsieur Jamal, der plötzlich unter falschem Namen aus Paris abreiste, um dem Abbé die zweihundert geliehenen Franken nicht zurückzahlen zu müssen. Zum Glück griff Madame Colonna sofort ein und beglich die Schuld.
Und inmitten all dieser Unbilden wurden die kandierten Orangen, nachdem die Neffen sie endlich abgeschickt hatten, unterwegs gestohlen.
Attos einziger Trost war es, in den Briefen des Durchlauchtigsten Großherzogs zu lesen, dass der neue, soeben geborene Großneffe, dem der Großherzog bei der Taufe Pate gestanden hatte, der Madame Konnetabel überaus wohl gefallen, ja sie an eine jener Putten aus Stuck erinnert habe, welche in Lucca hergestellt werden. Und kaum las Atto wieder Nachrichten von Maria Mancini, saß er am nächsten Morgen bei Tagesanbruch schon in der Kutsche nach Versailles, um den König zum erneuten Male anzuflehen, er möge ihn nach Pistoia zurückkehren lassen.
1713 hatte Atto schon zwei Großneffen, doch seine Gesundheit gestattete ihm nicht mehr, einen einzigen Schritt in seinem Zimmer zu tun, ohne sich abzustützen, ja, er konnte nicht einmal mehr zur Messe gehen. Überdies war er inzwischen wirklich erblindet. In einem unaufmerksamen Moment hatte er den Neffen geschrieben: «Zuletzt traf mich das Unglück, nicht mehr lesen noch schreiben zu können», was die Verwandten und sogar den Großherzog, die ihn seit Jahren blind wähnten, überrascht und empört hatte. Große Hoffnungen machte ihm sein Freund Monsieur de la Haye, der seine Sehkraft mit achtzig Jahren wiedererlangt hatte. Doch an Attos Augen sollte dieses Wunder nie geschehen.
Da er ahnte, dass der Abbé nicht mehr lange leben würde, schickte der Großherzog im Sommer Domenico nach Paris. Atto war sehr schwach, hoffte aber immer noch auf ein Wunder, das ihm gestatten würde, nach Pistoia zurückzukehren.
In diesem Jahr 1713 hatte Frankreich die Talsohle erreicht: Die Staatsfinanzen waren so zerrüttet, dass nach Melanis Worten hundert Jahre Frieden nicht ausreichen würden, die Schulden des Königs zu bezahlen. Sämtliche Einkünfte des Reiches waren verpfändet, darum fürchtete man, dass die Einnahmen des Hôtel de Ville alle geschönt wurden. Seit gut zwei Jahren wurden keine Pensionen mehr gezahlt, obwohl halb Frankreich von diesen Bezügen lebte. Atto hatte inzwischen seine gesamte Habe in Bargeld erschöpft, er wusste nun wirklich nicht mehr, wie er die Miete bezahlen sollte. So nahm die Rückkehr nach Pistoia die Bedeutung einer Rettung in extremis an, denn zum Glück besaß er noch sehr viele Ländereien und Häuser.
Im November 1713 erfuhr er, dass Maria immer noch in seinem Haus in Pistoia weilte, und hoffte, der König werde ihn endlich freigeben. Der Frieden war fast perfekt: Prinz Eugen und der Marschall de Villars hatten in Rastatt eine Unterredung geführt, und man nahm an, dass das Abkommen über den Waffenstillstand noch vor Weihnachten unterzeichnet würde. Europa lag am Boden. Atto plante, nach Versailles zu fahren, sobald der Winter vorbei war, im April. Wieder wollte er den König anflehen, ihn in seine Heimat reisen zu
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