Veritas
bedienen, einen fingierten Streit mit Kardinal Albani, dem zukünftigen Papst, vom Zaun brechen und so weiter, immer mit der teuflischen Gerissenheit, die ihm eigen war.
Dieses Mal, im Wien des Jahres 1711, waren die Dinge gänzlich anders verlaufen. Der Abbé war in die Kaiserstadt gekommen, um Eugen von Savoyen zu bewegen, den Krieg zu beenden. Er wusste zwar auch jetzt von Anfang an, was er zu tun hatte (dem Kaiser den gefälschten Brief aushändigen), doch aufgrund der Krankheit Josephs hatten sich seine Versuche bald als vergeblich herausgestellt. Schließlich waren sie von den dunklen Manövern eines Mannes hinweggefegt worden, der viel mächtiger war als Atto, aber kein Gesicht hatte. Jetzt wussten wir, dass es ein ganzes Netz von Verschwörern gewesen war, nicht nur eine Person.
Dies war der Niedergang des Abbé Melani, wie er selbst klar erkannt hatte. Nachdem er in jenem heißen römischen Juli vor elf Jahren den Gipfel seiner diplomatischen Macht erklommen hatte, war sein Stern nun gesunken. Neue Zeiten waren angebrochen. Atto war nur mehr ein alter Mann, eine Erinnerung an vergangene Zeiten.
Und dies waren nicht die einzigen Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Joseph der Sieghafte war tot, doch seine Totenwache führte zurück zu einem anderen traurigen Tag: dem Tod Maximilians des Mysteriösen. Wie viel Großes verband diese beiden unglücklichen Kaiser!
Beide hatten im Krieg ihr Heer persönlich angeführt, beide hatten gegenüber den Anhängern Luthers Toleranz geübt. Beide waren für immer mit dem Ort Ohne Namen verbunden: Maximilian, weil er ihn geschaffen, Joseph, weil er seine Restaurierung gewollt hatte, bis der Tod seine Pläne zunichtemachte. Auch Schönbrunn war von Maximilian gegründet und zum größten Teil von Joseph erweitert worden. Beide waren in vielen Sprachen gewandt und mit weit mehr Intellekt begabt als die meisten ihrer Vorgänger und Nachfolger.
Doch all ihre Größe war im Nichts zerronnen: Maximilian war bald vergessen worden, und so wird es (darauf wette ich) auch Joseph ergehen, wenn die dunklen Mächte hinter Ciezeber-Palatino nicht aufgehalten werden.
Beide starben vorzeitig an einer Krankheit und wurden ärztlichen Heilmethoden unterworfen, die suspekt waren. Beiden folgte ein Bruder auf den Thron, nicht der eigene Sohn. Oh, wie leicht ist es noch für den arglosesten Geist, in diesen beiden Schicksalen die Spur eines einzigen mörderischen Willens zu entdecken!
Dies war nicht das erste Mal, dass ich den Mord an einer angesehenen Persönlichkeit aus nächster Nähe erlebte. Vor achtundzwanzig Jahren war ich Zeuge des Todes von Nicolas Fouquet gewesen, Oberintendant der Finanzen des Allerchristlichsten Königs. Es war der unvermeidliche Abschluss eines von Verleumdungen heimgesuchten Lebens. Nachdem er beseitigt worden war, hatte man sein allseits mit Neid bedachtes Schloss Vaux-le-Vicomte geplündert und so zur Verwahrlosung verdammt wie den Ort Ohne Namen. Kurz, Fouquet war geendet wie Maximilian und Joseph.
In der Ritterstube hallte unterdessen der traurige Chorgesang wider, dessen Bitten ich mir zu eigen machte:
Erschaffe mir , Gott , ein reines Herz
Und gib mir einen neuen , beständigen Geist !
Oh, sieghafter Joseph! Dein Tod selbst zeigt auf den Schuldigen und holt ihn aus seinem Versteck. Niemals könnte der Mord an dem Helden von Landau das Werk eines ihm Gleichgestellten sein. Wenn der Sonnenkönig sich sogar, als es ein Leichtes für ihn gewesen wäre, geweigert hatte, dich entführen oder töten zu lassen, warum hätte er dich dann heimlich meucheln sollen? Niedrig sind die, die dich töteten, niedrig im Geiste. Dein Tod ist das Ende einer Epoche, der Zeit der großen Könige, der großen Gestalten. Einer Zeit, da die Herrscher nicht wagten, den Kopf eines anderen Königs rollen zu lassen, wie Abbé Melani mich lehrte. Ein neues Jahrhundert hat Einzug gehalten, wo dunkle Mächte sich erheben, wo Komplotte geschmiedet werden von Menschen, die kein Gesicht und keinen Namen, vor allem aber kein Gesetz haben.
Der Chor, den die überirdisch schönen Stimmen Orsinis und der Landina veredelten, mahnte, auf die unendliche göttliche Weisheit zu vertrauen:
Dann lehre ich Abtrünnige Deine Wege ,
Und die Sünder kehren um zu Dir .
Ich sah Atto still beten und von Zeit zu Zeit den faltigen Hals recken, um einen Blick auf den Leichnam des Kaisers zu werfen. Er hatte die neuen Zeiten als Erster erkannt. Waren nicht alle irgendwie Teil dieser
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