Veritas
grausamen Tragödie? Zwar ward Josephs Tod von den neuen Machthabern gelenkt, doch auch alle anderen, bis hin zu den Löwen, die ich über den Kadaver des Ochsen im Neugebäu herfallen sah, haben von diesem Tod ihren Nutzen gehabt. England und Holland, die Erfinder des Komplotts, haben verhindert, dass das Reich zu mächtig wurde, indem sie das Gleichgewicht zwischen den europäischen Mächten störten. Dann sind da die Helfershelfer: Die Jesuiten haben sich an dem einzigen Kaiser gerächt, den sie nicht erzogen und der sich ihrer zudem entledigt hatte; der Bruder Karl, der jetzt Kaiser wird, hat seinem Hass auf den älteren Bruder die Krone aufgesetzt; die Minister der alten Garde, die Joseph verjagt oder zum Gehorsam gezwungen hatte, lehnen sich zufrieden zurück; Eugen von Savoyen oder Madame L’Ancienne hat sich für die Demütigung von Landau gerächt, als der junge Naseweis Joseph den größten General-Invertierten aller Zeiten verdrängt hat. Schließlich die Meuchelmörder: Der Islam ist, wie immer, benutzt und vom Okzident vor den eigenen Karren gespannt worden.
Wer ist es also gewesen? Alle. Alle haben einem Derwisch mit hundert Namen die Waffe in die Hand gedrückt, Palatino oder Ammon oder Ciezeber, der vielleicht wirklich siebenhundert Jahre alt ist. Oder vielleicht war es umgekehrt: Es waren der Derwisch und jene, die wie er viele Namen, aber keinen Nachnamen haben, die England, Holland, Jesuiten, Minister und sogar Eugen und Karl manövrierten, damit die ruchlose Tat geschah.
Es war heiß in der Aufbahrungshalle, unter den Perücken rann der Schweiß hervor, Müdigkeit machte sich breit.
Vielleicht, überlegte ich, hatte Joseph der Sieghafte den Ort Ohne Namen restaurieren wollen, weil er sich stark genug wähnte, um den Gegnern des Neugebäus und Maximilians die kalte Schulter zu zeigen. Stattdessen …
Wieder schaute ich Atto an. Diesmal erwiderte er meinen Blick, und einen kurzen Moment lang schien es, als sprächen seine traurigen Augen zu mir. Doch es war gewiss nur ein Traum, was ich jetzt hörte:
« Präge dir Josephs wächsernes Gesicht gut ein , mein Junge . Herrscher wie ihn wirst du niemals mehr sehen . Die Könige der Zukunft werden nur Marionetten in der Hand von Gruppierungen ohne Anführer , von Ungeheuern ohne Kopf sein , die niemanden anhören , der nicht aus ihren Kreisen stammt . Doch wer dort eintritt , wird ihr Gefangener . Es wird ein Tag kommen , da das Volk auf die Straßen geht , und man wird nicht wissen , woher es kam , wie während der Fronde am Tag der Geheimnisvollen Barrikaden , als das Nichts nach allen Seiten Scharen von Fanatikern ausspie , die bereit waren , alles niederzureißen , jede Autorität , jedes heilige Symbol , jede menschliche Grenze . Wie in Prag während der Funeralien Maximilians II . Doch diesmal wird es nicht ein oder zwei Tage dauern . Nein , der Tag wird kommen , da der Terror jahrelang nackt durch die Straßen läuft , bewaffnet mit Beilen und Sensen , um der Wahrheit die Zunge und den Gerechten den Kopf abzuschneiden . Sie werden ihn Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit nennen , aber er wird nur Gemetzel und Tyrannei sein .»
Ich wandte den Blick von Attos Augen. Eine Gruppe Nonnen war in die Aufbahrungshalle gekommen und stimmte ein Rosenkranzgebet an. Dann blickten Atto und ich uns wieder an:
« Du wirst keine Lehren mehr von mir hören . Mit deinem jetzigen Wissen wirst du die kommenden Ereignisse verstehen . Die zukünftigen Bündnisse , Kriege und Krisen – all das wird von den Söhnen , Enkeln und Urenkeln der Mörder Josephs planmäßig inszeniert sein .»
Da dachte ich zurück an die Zeit, als mein seliger Schwiegervater vor fast dreißig Jahren gegen die Ehe zwischen Blutsverwandten bei den Monarchen aller Länder, diesen ewigen Inzest der Herrscherhäuser, gewettert hatte. Mit einem jähen Flackern in den Augen sagte mir Atto, dass es jetzt um etwas ganz anderes ging:
« Von nun an werden die Ehebündnisse , die Geschlechterlinien , die Blutsverwandtschaften streng geheim gehalten werden . Nichts wird mehr unter dem Licht der Sonne geschehen , damit keiner mehr auf die Wahrheit zeigen kann . Und wer es trotzdem versucht , wird sogar als verrückt gelten .»
Und ich dachte an Albicastro, den wunderlichen Violinisten, dem ich vor elf Jahren, bei meinem zweiten Abenteuer mit Atto, begegnet war. Auch er hatte eine ähnliche Prophezeiung gemacht, aber jetzt erst verstand ich ihren ganzen Sinn: Es war die notwendige Lehre, um
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