Veritas
Lügen und das Vorurtheil liegen wie dicke Nebel über dem Lande meiner Heimath, aber wir wollen rastlos bleiben und den Muth nicht sinken lassen … Vincit Veritas !»
(Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien)
VATIKANSTADT, 14. FEBRUAR 2042
An Don Alessio Tanari,
Centrul Salesian
Konstanza – RUMÄNIEN
Lieber Alessio,
mit dieser Sendung möchte ich wieder einmal von mir hören lassen. Sie werden sofort verstehen, wenn Sie das Paket öffnen: Ich habe Ihnen eine Kopie des neuen Buches geschickt, das ich von meinen Freunden Rita und Francesco erhielt. Einer Gewohnheit folgend, die mittlerweile zwischen uns zur Tradition geworden ist, haben sie mir auch ihr drittes Werk zukommen lassen, bevor es veröffentlicht wird.
Ich bin mir sicher, dass dieser Roman Ihnen viel Freude bereiten wird, wussten Sie ja auch schon die Lektüre der beiden vorhergehenden Bücher nutzbringend zu verwerten. Apropos, haben Sie es gesehen? Nach Imprimatur ist auch das zweite Werk der beiden, das den Titel Secretum trägt, veröffentlicht worden. Und niemand anderes als ich war es, der Ihnen das Manuskript vor knapp einem Jahr schickte. Damals lebte ich in Rumänien, in Konstantia, dem antiken Tomis, wohin Kaiser Augustus den lateinischen Dichter Ovid verbannte und wo Sie sich jetzt selbst befinden.
Wer hätte gedacht, dass die Dinge sich in so kurzer Zeit ändern würden? Mit dem Tod des alten Papstes und der Wahl des deutschen Pontifex ist alles anders geworden. Seine Heiligkeit hat die Güte gehabt, mich zum Kardinal zu ernennen und mir einen Platz in der Kongregation für die Glaubenslehre anzuweisen. Wenn ich zufällig an einem Spiegel vorbeikomme und dort mein unverdient mit so viel Purpur geschmücktes Spiegelbild erblicke, muss ich lachen bei der Erinnerung an die Zeit vor nur einem Jahr, als ich mich in meinem Exil in Rumänien endgültig zu einem ganz anderen Purpur verdammt glaubte: dem des Märtyrertums.
Und Sie, wie befinden Sie sich in Ihrer neuen Position als Missionar in Rumänien? Wie fühlt man sich, wenn man den Ornat des Monsignore abgelegt hat und wieder das Gewand eines einfachen Priesters trägt? Es mag Ihnen wie eine Degradierung erschienen sein, doch für den Geist ist es nicht förderlich, die Dinge nur so zu bewerten, wie sie erscheinen, finden Sie nicht auch?
Der Heilige Vater (der den Entschluss zu Ihrer sofortigen Versetzung und meiner ebenso unverzüglichen Rückkehr schon kurz nach dem Konklave fasste) hat mir vor einigen Tagen gesagt, dass er sich gut an Sie erinnere, als Sie mein Schüler im Priesterseminar waren. Eine Mission in Konstanza auf unbegrenzte Zeit ist Seiner Meinung nach genau das, was den ehrgeizigen Zielen entgegenkommt, die Sie schon als junger Mann hegten. Ich spreche natürlich von spirituellen Zielen.
Doch lassen Sie mich auf das beigelegte Manuskript und auf meine beiden alten Freunde Rita & Francesco zurückkommen. Ihre Heiligkeit hat es bereits gelesen, und da er selbst aus den teutonischen Landen stammt, in denen die Handlung spielt, hat es ihm großes Vergnügen bereitet, zu verfolgen, wie diese Erzählung Walzer tanzt zwischen Geschichte und Literatur, wie sie Zitate aus historischen Quellen mit Anspielungen auf Shakespeare, Proust und Karl Kraus verknüpft und dem Leser zuletzt augenzwinkernd burleske Anachronismen aus den berühmtesten Wiener Operetten anbietet, wie zum Beispiel Die lustige Witwe von Franz Lehár (aus der der erfundene Kleinstaat Pontevedro und vieles andere stammt), Die Fledermaus von Johann Strauß jr. (wo Frosch ein Gefängniswärter ist), Gräfin Mariza von Emmerich Kálmán und natürlich Der Bettelstudent von Karl Millöcker.
Ich schicke Ihnen außerdem die Aufnahme eines Chors, der das mittelalterliche Motiv des Quem queritis singt. Ich hörte diese Musik zufällig in den Tagen, als ich das dritte Buch meiner Freunde las. Bevor ich erkläre, warum Sie diese Aufnahme bekommen, muss ich kurz etwas vorwegschicken:
Imprimatur Secretum Veritas Mysterium : So lautet, dem Manuskript meiner beiden Freunde zufolge, die Botschaft, die der Erzengel Michael in die Spitze des Stephansdoms gravierte. Oder ist es nur eine närrische Erfindung des Heiligenfledderers Ugonio? Als ich die Worte las, habe ich sofort vermutet, sie könnten aus einem Flos sententiarium stammen, einer jener Sammlungen lateinischer Motti, wie in vino Veritas oder est modus in rebus .
Wie der Erzähler richtig anmerkt, folgt die Inschrift dem epigraphischen Usus, Verben und Adverbien
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