Veritas
betrachte meine Schwiegersöhne starr und ungerührt. Und jage sie in die Flucht. Meine Töchter studieren für mich die neuen Traktate über Nervenleiden, die jetzt bei jungen Ärzten so in Mode sind – Ärzten, die nichts anderes können, als das Skalpell in der Hand zu halten, um Leichen zu sezieren. Nicht ein einziges Gedicht wissen sie mehr zu schreiben. Als könnte es Wissenschaft ohne die Künste geben … Meine Mädchen schlagen mir Punktionen und Balsame vor, sie bedrängen mich, wollen mich überreden, meine Stimmbänder von einem berühmten Medikus untersuchen zu lassen.
Nein danke. Ich danke euch allen. Jetzt ist es genug. Ich will so bleiben. Die Zeit ist so, das Leben ist so; und in dem Sinn, den ich meinem Gewerbe gebe, möchte ich weiter auf genau diese und keine andere Weise – stumm und unbeirrt – Schriftsteller sein.
Ist die Bühne bereit?
Vorhang auf!
Pistoia
ANNO 1644
Die Kutsche ächzt, die Pferde schäumen, und der Staub umhüllt uns wie eine Puderschicht. Bis zur Ankunft in Rom werden wir übergenug davon schlucken. Erst seit einer Viertelstunde fahren wir, doch meine Glieder knirschen schon wie die Achse unserer Karosse.
Ich beuge mich aus dem Fenster, um zurückzublicken, und im Morgendunst sehe ich die Dächer von Pistoia nach und nach verschwinden; bald werden sie ganz fort sein. Dann schaue ich nach vorn, bis zum unsichtbaren, weit entfernten Zenith, wo uns die Umarmung der Heiligen Stadt erwartet.
Mein junger Herr, der achtzehnjährige Atto Melani, sitzt neben mir. Seine Augen sind geschlossen, von Zeit zu Zeit öffnet er sie, blickt umher, dann schließt er sie wieder. Es scheint fast, als sei diese große Reise ihm gleichgültig, aber ich weiß, dass es nicht so ist.
Bevor er ihn mir anvertraute, erging sich Attos Taufpate, Messer Sozzifanti, in allerlei Empfehlungen: «Er ist ein impulsives Naturell. Du wirst auf ihn achtgeben, ihn beraten, ihn zügeln müssen. Dergleichen hervorragende Talente müssen Früchte tragen. Er soll in allem dem Meister gehorchen, welchen wir für ihn gefunden haben, den großen Luigi Rossi, und sein Wohlwollen erringen. Er meide schlechte Gesellschaft, betrage sich löblich und errege niemals Ärgernis, so er zu Ehren kommen möchte. Rom ist ein Schlangennest, wo hitzige Gemüter fehlgehen müssen.»
Ich habe genickt und mich bedankt, bevor ich, ohne Fragen zu stellen, eine Verbeugung machte. Wusste ich doch schon selbst, was mir nicht gesagt worden war: das Wichtigste.
Mir ist der talentierteste Kastrat anbefohlen worden, der je im Großherzogtum der Toskana gesehen ward. In Rom werden die Meister den größten Sopran unserer Zeiten aus ihm machen. Er wird reich werden, und alle werden ihn bejubeln.
Das lässt sich leicht denken, dass es nicht einfach sein wird, ihn bei kühlem Verstande zu halten. Er kommt aus einer armen Familie (sein Vater ist der schlichte Glöckner des Doms von Pistoia), doch der Bruder des Großherzogs, der mächtige Mattias de’ Medici, trägt ihn schon auf Händen. Ich blicke ihn verstohlen an, den jungen Atto, ich sehe das Grübchen, das ihm mitten im Kinn prangt, leicht erzittern und verstehe alles. Obgleich er die Augen halb geschlossen hält und Schlaf vortäuscht, dünkt mich fast, ich könne sehen, wie sich ihm stolz die Brust schwellt ob der Protektion, welche die Mächtigen ihm gewähren. Wie seine Augen hinter den Lidern hin und her irren, im Versuch, die Träume vom Ruhm zu erhaschen, die vor ihm tanzen wie ein Schwarm aufgeregter Schmetterlinge. Statt an Röcke zu denken, wie alle Jungen seines Alters, hat er Glorie, Ehre und gesellschaftlichen Aufstieg im Kopf. Nein, ihn im Zaum zu halten wird nicht leicht sein.
Und außerdem: Warum sollte ein junger Kastrat wohl weise sein und sich maßvoll betragen, wenn das, was ihn auf die Straße nach Rom geführt hat, eine entsetzliche, barbarische Nacht war, in der man ihn, ein Kind, in eine Wanne legte und ihm die Männlichkeit mit einer Schere abschnitt? Und während das Wasser sich purpurn färbte und laut die Schreie gellten, aus der Wanne kein Mann mehr hervorkam, sondern ein grausamer Scherz der Natur?
Nein, es wird nicht leicht sein, den jungen Atto Melani zu bändigen. In Rom erwarten mich interessante Tage, dessen bin ich gewiss.
« Veritas steht auf dem Titelblatt dieses Buches. [ … ] In dieser trostreichen Überzeugung schließe ich mein Buch, welches im Dienste der Wahrheit steht. Von vielem Dunklen und Trostlosen habe ich berichten müssen, die
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