Veritas
der Geschichte der Pocken finden sich nicht nur Fälschungen, sondern auch peinliches Verschweigen. Der Erfinder der Impfung – jenes Verfahrens, das auf die Inokulation folgte –, der berühmte englische Arzt Edward Jenner, impfte seinen zehn Monate alten Sohn mit einem Serum aus den Pusteln eines Pockenkranken. Jenners Sohn wurde geistig behindert und starb mit 21 Jahren. 1798 impfte Jenner ein fünfjähriges Kind, das unmittelbar darauf starb, und eine Frau, die im achten Monat schwanger war. Etwa einen Monat später gebar sie ein totes Kind, dessen Körper mit pockenähnlichen Pusteln bedeckt war. Trotz dieser Resultate schickte Jenner Proben desselben Serums, das er für seine Experimente benutzt hatte, an die europäischen Herrscherhäuser. Sie wandten es in großflächigen Versuchen bei Waisenkindern an, um neue Krankheitsfälle hervorzurufen und dann neue Proben infizierter Materie entnehmen zu können. Handbücher der Medizingeschichte hüten sich, an diese Ereignisse zu erinnern.
Kehren wir ins 18. Jahrhundert zurück. Bald schon erhoben sich viele kritische Stimmen gegen die Inokulation. Man verwies auf den tragischen Fall der Madame de Sévigné, die an Pocken erkrankte und ebenfalls 1711 starb – allerdings nicht an der Krankheit, sondern, unter grausamen Qualen, an den Verordnungen der Ärzte (vgl. J. Chambón, Traité des métaux et des minéraux , Paris 1714, S. 408 ff). Um die Mitte des 18. Jahrhunderts behandelte Luigi Gatti, ein italienischer Arzt in Paris, die Pocken von Madame Helvetius, indem er vor der Kranken lustige Tänze aufführte. Er war nämlich zutiefst überzeugt, Heiterkeit sei das einzig erlaubte Heilmittel und der tödliche Ausgang der Pocken habe keinen anderen Grund als die ärztlichen Behandlungsmethoden. Eine Meinung, die Gatti aus unerfindlichen Gründen später drastisch änderte: Er wurde plötzlich zu einem der aktivsten (und reichsten) Inokulatoren.
Noch im 19. Jahrhundert berichtete van Swieten, dass die Adeligen und Wohlhabenden, die an Pocken erkrankten, fast alle starben, während das Volk, das sich keinerlei Behandlung unterzog, überlebte (vgl. Rapport de l’Académie de Médecine sur les vaccinations pour l’année i8$6 , S. 35).
Nicht nur das: Nun wurden Stimmen laut, nach denen die Inokulation, auch wenn sie nicht töte, absolut nichts nütze. Es gab Menschen, die, obwohl sie sich hatten inokulieren lassen und an den so erzeugten Pocken erkrankt waren – freilich ohne daran zu sterben –, später doch wieder Pocken bekamen, sogar noch Jahre danach. Der Mercure de France vom Januar 1765 (Bd. II, S. 148) berichtet zum Beispiel vom Fall der Herzogin von Bouffiers. Doch der ärgste Verdacht sollte noch kommen: Löst die Inokulation auch bei den Menschen Pocken aus, die sie bereits hatten? Bekanntlich «treten die Pocken nur ein einziges Mal im Leben auf», wie auch Avicenna sagt, und immunisieren dann für immer gegen die Krankheit. Nach Meinung vieler Mediziner, die Gegner der Inokulation sind, wird dieses natürliche Gesetz durch die künstlich erzeugten Pocken außer Kraft gesetzt. Der Beweis? Ein berühmter Fall: Ludwig XV. von Frankreich, der im Alter von 18 Jahren die Pocken hatte, starb 1774 mit 64 Jahren. An Pocken. Und er starb unter Umständen, die denen des Todes von Joseph I. sehr ähnlich sind.
Bei Ludwig XV gibt es eine Besonderheit: Als einziges Kind überlebte er das unglaubliche Massensterben der Kinder und Enkel des Sonnenkönigs, seines Großvaters, durch welches das Geschlecht der französischen Bourbonen zwischen 1711 und 1712 beträchtlich dezimiert wurde. Graf De Mérode-Westerloo (Mémoires , Brüssel 1840) berichtet, dass Palatino ihm im Jahr 1706 diese Todesfälle prophezeit und behauptet habe, in allen Fällen würden Verbrechen dahinterstecken. 1712 war der kleine Ludwig eben zwei Jahre alt, er war das zweite Kind der Herzöge von Burgund. Die Eltern und der ältere Bruder waren an den Pocken gestorben. Ludwig aber konnte sich retten, denn als die ersten Anzeichen der Krankheit bei dem Kleinen auftauchten, verbarrikadierten sich seine Ammen buchstäblich mit ihm in einem Zimmer und hinderten die Arzte daran, ihn auch nur zu Gesicht zu bekommen. Die Ammen waren nämlich überzeugt, dass gerade die Arzte die anderen Mitglieder der königlichen Familie getötet hatten. So entging Ludwig der Prophezeiung Palatinos und bestieg, als er volljährig wurde, als Nachfolger seines Großvaters Ludwig XIV den Thron Frankreichs. Frankreich
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