Veritas
Jahrhunderts die heute bekannte Methode der Impfung erfand. Bei der Inokulation wurde aus den Pusteln von Pockenkranken mit schwachen, gutartigen Symptomen ein Serum entnommen und gesunden Menschen durch einen Schnitt in die Haut injiziert, um eine ebenfalls geringfügige Pockenerkrankung auszulösen. Der so behandelte Patient sollte leicht und für kurze Zeit erkranken und auf diese Weise für immer vor der Ansteckung mit einer schwereren Form der Pocken geschützt sein. Es war nämlich allgemein bekannt, dass Pocken denselben Menschen nie zweimal befielen.
Natürlich kann die subkutane Inokulation statt vorbeugenden Zwecken ebenso verbrecherischen Absichten dienen, wenn sie mit einer tödlichen Form des Virus vorgenommen wird.
Timoni berichtet von zwei alten griechischen Wahrsagerinnen, genannt die Thessalierin und die Philipperin, die sich um die Wende zum 18. Jahrhundert in Konstantinopel aufhielten und in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches Inokulationen bei der «freien», also nichtmoslemischen Bevölkerung vornahmen. Denn die Muselmanen lehnten es ab, sich inokulieren zu lassen. In den Jahren 1701 und 1709, also nachdem diese Praxis sich schon seit einigen Jahren in der Stadt verbreitet hatte, erlebte Konstantinopel die ersten Pockenepidemien mit vielen Toten. Die beiden Wahrsagerinnen wurden jedoch nicht gelyncht, sondern lauthals gepriesen. Denn einige angesehene Ärzte behaupteten, ohne die Eingriffe der beiden Griechinnen wäre die Epidemie noch verheerender verlaufen. Und bald bürgte auch der örtliche Klerus für die Frauen, was der Inokulation endgültig Tür und Tor öffnete.
Ein Jahr nach den von Timoni beschriebenen Ereignissen, im Jahr 1714, berichtet der venezianische Botschafter in Konstantinopel in seiner Schrift Nova et tuta variolas excitandi per transplantationem metbodus nuper inventa et in usum tracta ebenfalls von der Praxis der Inokulation.
Zwei Jahre später, zwischen 1716 und 1718, erlebte die subkutane Inokulation eine explosionsartige Verbreitung in ganz Europa. Auslöser war die Gattin des englischen Botschafters in Konstantinopel, Lady Mary Wortley Montagu, die das Verfahren offiziell aus der Türkei nach England einführte. Auf ihren Reisen propagierte die englische Lady die Inokulation an allen europäischen Höfen in glühenden Tönen, ja, sie ließ sogar ihre eigenen Kinder inokulieren. 1716 hielt sie sich in Wien auf, wo sie, wie man in ihrem Tagebuch liest, auch die Witwe und die Töchter Josephs kennenlernte. Im Jahr 1720 überredete sie den englischen König, einige Galeerensträflinge inokulieren zu lassen. Von 1723 an wurde die Inokulation zu einer massenhaft angewandten Methode.
Doch genau in diesem Zeitraum verwandeln die Pocken sich, anstatt schwächer zu werden, von einer «gutartigen Krankheit» in eine Infektion, die fast immer tödlich verläuft. Die Pocken gelten jetzt nicht mehr als eine Kinderkrankheit: Ihre Symptome sind sehr viel schwerwiegender als die in den vergangenen Jahrhunderten beschriebenen, und vor allem lassen sich die grässlichen Pusteln der Pocken keinesfalls mehr mit den Bläschen bei Windpocken und noch weniger mit dem Ausschlag aus roten Pünktchen bei Masern vergleichen.
Einem Aufsatz von Marco Cesare Nannini, La storia del vaiolo (Die Geschichte der Pocken) , Modena 1963, entnehmen wir erschreckende Zahlen: In den ersten 25 Jahren nach Einführung der Inokulation stirbt 10 % der Weltbevölkerung. Überaus zahlreich sind die Fälle von hämorrhagischer Variola. Schon bald entpuppt sich die Inokulation als ein ausgezeichnetes Mittel kolonialer Eroberungsfeldzüge: Die Ureinwohner Amerikas, von den Indianern bis zu den Indios, werden mit ihrer Hilfe dezimiert. E. Bertarelli (Jenner e la scoperta della vaccinazione , Mailand 1932, Jenner und die Entdeckung der Impfung) berichtet, dass allein in Santo Domingo innerhalb weniger Monate 60 % der Einwohner sterben, dass die Pocken in Haiti, wo sie 1767 eingeführt werden, rasch zwei Drittel der Einwohner töten und dass 1733 drei Viertel der Bevölkerung Grönlands durch die Pocken ausgerottet werden.
In Europa sterben seit der Einführung der subkutanen Inokulation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 60 Millionen Menschen an den Pocken (H.-J. Parish, A History of Immunization , London 1965, S. 21). In zeitgenössischen Quellen aus dem Ende des 18. Jahrhunderts findet man ähnliche Schätzungen (D. Faust, Communication au congrès de Rastadt sur l’extirpation de la petite vérole , 1798,
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